von Dietrich Eckardt
Die hier vorgelegten Protokolle sind zu einer vierbändigen Reihe von Schriften zusammengefasst. Sie haben ein einziges Thema: Die Freiheit des Ich in der Gesellschaft. Das Thema ist so komplex, dass ich mich auf wenige Aspekte beschränken muss. Ich behandle nur fundamentale Sachverhalte. Das heißt ich versuche, eine Übersicht zu geben über die Grundzüge des Zusammenlebens von Menschen und diese in klare und deutliche Begriffe zu fassen. Die Bearbeitung eines solchen Themas ist eine Aufgabe, die unser Geistesvermögen immer auch an Grenzen bringt und wo wir bereit sein müssen, das Risiko des Irrtums auf uns zu nehmen.
Der Inhalt der Aufklärungsprotokolle erschließt sich erst vollständig, wenn man den Sinn klar vor Augen hat, den ich mit den soeben genannten Begriffen „Freiheit“, „Ich“ und „Gesellschaft“ verbinde. Ich expliziere ihn in den Anhängen 1 bis 3 des ersten Bandes. Dort finden die Leser die anthropologische Basis für das Gesamtwerk. Auf diese Anhänge beziehe ich mich oft. Ihre Kenntnisnahme sei deshalb ausdrücklich empfohlen.
Die in den Protokollen avisierte Gesellschaft kann man mit Vorbehalt (s. Band 1, Anhang 1 und 5 der Aufklärungsprotokolle) „freie Gesellschaft“ nennen. Anstelle von freier spreche ich oft auch von schlüssig-human organisierter Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft ist dem Ich ermöglicht, sich sein Verhältnis zu den Anderen so zu gestalten, wie es selbst dies will – allerdings ohne dem anderen Ich (dem Du), das gleiche Recht zu verwehren. Es geht um den freien zwischenmenschlichen Umgang des Ich, insbesondere auch mit den Machthabern der Gesellschaft.
Sollen die Worte „Freiheit“ und „Humanität“ überhaupt etwas Sinnvolles bedeuten, dann immer nur in Bezug zum einzelnen real existierenden Ich. Das gilt es vor allem Nachdenken über die Beziehung des Ich zum Du, also über das Wir,erst einmal festzuhalten. Ohne den ausdrücklichen Bezug zum Ich sind alle Freiheits- und Humanitätsbekenntnisse nichts als großmäulige Sprüche und hohle Proklamationen.
Die in solchen Sätzen zum Ausdruck kommende Betonung des Ich bedeutet weder dessen Vergottung, noch die Verteufelung irgendwelcher Kollektivismen. Die Sätze drücken lediglich den Protest gegen jede Art vorgeschobener Souveränität aus, einer Souveränität, die letztlich immer nur einem Ich zukommen sollte – und ihm übrigens auch zukommen kann.
Ein rigoroser Freiheitsbegriff versetzt in eine Welt, die für Viele von uns fremd ist. Wir führen das Wort „frei“ zwar gern im Munde. Aber wir sind uns der zuweilen auch harten Konsequenzen, die das Einstehen für die Freiheit und die Verwirklichung eines freien Lebens haben, nicht immer bewusst. Die Konsequenzen können als bedrohlich erscheinen. Dann fliehen wir schnell vor der Freiheit – hinein in Stallwärme und Sicherheit. Noch immer gilt das Wort des Jean Paul Sartre: „Freiheit ist ein Gut, dessen Anwesenheit weniger Vergnügen bereitet, als seine Abwesenheit Schmerzen“.
In meinen Protokollen versuche ich, ausgehend vom freiheitsbegabten Ich, eine dazu passende gesellschaftliche Organisationsform zu entwickeln. Der Versuch hat zu manch ungewöhnlichem Ergebnis geführt. An den Lesern ist es nun, zu beurteilen, ob sie ihnen brauchbare Einsichten liefern und ob dadurch eine Weltsicht erlangt werden kann, mit der man besser zurechtkommt als mit der bisherigen.
Die Protokolle sind ausdrücklich mit „Protokolle der Aufklärung“ betitelt. Aufklärung hat gemeinhin die Zerstörung festsitzender Tabus zur Folge: Vertraute Gewissheiten gehen verloren; Widersprüche treten zutage; Unsicherheiten stellen sich ein. Solche Folgen müssen in einer Zeit, die sich zugutehält, in allen Lebensbereichen „Emanzipation“ bewirken zu wollen, in Kauf genommen werden. Aber zum Trost der darüber Entrüsteten: Jede Aussage – auch solche in Richtung Aufklärung – relativiert sich schon dadurch, dass sie keine objektiven, sondern nur subjektive Wahrheiten verkündet. Dieses erkenntnistheoretisch begründbare Faktum sollte bei der Beurteilung der hier vorgestellten Untersuchungsergebnisse berücksichtigt werden (s. dazu auch Aufklärungsprotokolle Bd. 1, Anhang 5).
Manche Leser müssen sich bei der Kenntnisnahme meiner Thesen in eine ihnen fremde Welt hineindenken. Aber diese Welt ist nicht überall und jedem fremd. Viele ihrer Topoi finden sich – mehr oder weniger explizit – in den Werken anderer Autoren, vor allem in denen der europäischen Aufklärer. Der Titel „Protokolle der Aufklärung“ ist eine Hommage an die Aufklärungsepoche, an die Zeiten des Descartes, Hobbes, Montesquieu, Locke, Voltaire, Rousseau, Hume, Kant. Wer sich mit dieser Tradition näher beschäftigt hat, wird in den Protokollen manch Bekanntes wiederfinden.
Den größten Bezug zur Realität hat immer noch die Freiheitsvision, welche die abendländische Aufklärung hatte. In meinen Protokollen will ich versuchen, dieser Vision Kontur zu verleihen – bezogen vor allem auf die Gesellschaftlichkeit des Ich. Dabei ergeben sich viele Parallelen zu den Spätschriften Immanuel Kants. Für Kant war Freiheit „seine wichtigste Denk- und Lebensmaxime“ (Manfred Geier, 2013). Dafür nahm er persönliche Nachteile und Risiken in Kauf. Kant war es auch, der herausfand, dass es einer radikalen geistigen Verwandlung bedarf, um das Wesen der Freiheit umfänglich zu erfassen.
Nun wird man aber nicht alles von den Lehren der Aufklärer (auch nicht von Kant) übernehmen können. Meine Untersuchungsergebnisse bieten auch Einsichten, die neu sind und welche die Aufklärer nicht hatten, vor allem in Bezug auf die soziale Eingebundenheit des Ich in Wirtschaft und Recht. Nur ist dieses Neue gerade deshalb neu, weil es tief im Alten verwurzelt ist.
Ein neues gesellschaftstheoretisches Konzept steht immer in der Gefahr, als schnell gefertigtes Kunststückchen abgetan zu werden. Dagegen kann es sich nur dadurch wappnen, dass es sich exzeptionell auf Beobachtung und Analyse gründet. Nun stammen die Beobachtungsdaten, die ich meinen Untersuchungen nur zugrunde legen konnte, aus heute gelebter Gesellschaftlichkeit. Wir haben momentan keine anderen. Meine Untersuchungen gehen zwar von diesen Daten aus, transzendieren sie aber auch. Will sagen: die Gesellschaft wird nicht nur so beschrieben, wie sie nun einmal ist, sondern darüber hinaus auch so, wie sie in einem schlüssig-human organisierten menschlichen Zusammenleben sein sollte. Bei der Analyse der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse kristallisiert sich so etwas wie ein soziales Ideal heraus. Es erwächst ein Maßstab, der nicht nur hilft, gängige Meinungen über die Gesellschaft in Frage zu stellen, sondern auch Neues zu sehen und ungewohnte Perspektiven zu eröffnen.
Nicht nur als Anregung für künftiges Denken und Handeln, sondern auch für das Beurteilen und Bewerten des Gegenwärtigen ist es nützlich, einen auf Realität beziehbaren Maßstab zu haben. Um einen solchen handelt es sich hier. Dabei geht es vorerst um einebloße Idee und nicht schon um einen festen Plan, in dem die Idee zu einer konkreten Vorstellung versinnlicht oder gar zu einer Handlungsanweisung verdichteterscheint. Die Geburt einer Idee wird auch ohne dies ein wichtiger Schritt nach vorn sein können. Ideen sensibilisieren die Menschen. Danach entfaltet sich ihre Wirkung auch ohne viel Zutun. Das gilt besonders dort, wo die Freiheit des Ich im Mittelpunkt steht.
Letztlich geht es immer darum: Wie können die Pole Idealität und Realität einander nähergebracht werden? Dass beide gar eins werden, das hätten wir alle wohl gern. Aber noch jedes Abenteuer in diese Richtung hat mit einem schmerzhaften Schlag auf den Hinterkopf geendet. Eine Annäherung hingegen sollte erlaubt sein. Damit die Ferne zwischen beiden Polen etwas kleiner und das Leben zwischen ihnen erträglicher wird.
Bücher über das Ich und seine Gesellschaftlichkeit können die Grundzüge des menschlichen Charakters nicht ändern. Vielleicht können sie ein helleres Bewusstsein im Ich hervorrufen, und zwar über sich selbst und über seine Lebensumstände innerhalb der Gesellschaft. Keine noch so suggestive Aufklärungsschrift kann den Menschen – wesensmäßig ausgestattet mit einer Licht- und einer Schattenseite – zum strahlenden Halbgott machen. So sind die in den Protokollen vorgestellten Thesen zugeschnitten auf den Menschen, wie er nun einmal ist, auf den gewissermaßen „alten“ Menschen. Das ist jener Mensch, dessen zwiespältige Natur über die Jahrtausende hinweg die gleiche geblieben ist, nur dass er sich immer wieder in einer etwas unangenehmen Gemütslage befindet, die auf Bereinigung drängt.
Die Protokolle sind Sachbücher. Jedes auf Beobachtung und Analyse basierte Sachbuch zielt darauf, die Hirnstruktur seiner Leser ordnen zu helfen. Meine Protokolle tun das auf ihre Art: Sie dokumentieren eine bestimmte historisch gewachsene Hirnstruktur, den momentanen Bewusstseinsstand eines forschenden Individuums. Darin unterscheiden sie sich von vielen „normalen“ Sachbüchern. Die beinhalten oft willkürlich ausgedachte Fiktionen, mit denen sie bis zur Dickleibigkeit gemästet sind (s. Anhang 5 der Aufklärungsprotokolle Bd. 1).
Ich glaube, dass es künftig verstärkt auch von anderen Autoren Sachbücher der hier vorgestellten Art geben wird, Bücher, die dezidiert im individuellen Erleben verankert sind. Sie werden einen Damm bilden gegen die Flut der massenhaft produzierten Traktate, deren Theorietreiberei die Nähe zum wirklichErlebtennur vortäuscht. Denn die dokumentieren oft nichts anderes als den aus der Geltungssucht des Wissenschaftsbeamten geborenen Zwang zur Selbstverwirklichungskultur des geöffneten Mundes.
Die Protokolle wollen den Lesern helfen, sich und ihre Welt besser zu verstehen. Sie wollen helfen, den „Smog im Hirn“ (Claudio Hofmann) zu beseitigen, der sich infolge des heute üblichen Wachstums- und Entwicklungsgangs bei uns allen angehäuft hat. Das erfordert hin und wieder einen Rückgang in die Tradition. Dies aber nicht im Sinne eines kruden Konservativismus, sondern im Sinne eines Zurück an die Quellen menschlicher Welthabe und menschlichen Weltverständnisses. In mancher Überlieferung ist das Sprudeln dieser Quellen deutlich zu hören. Viele Grundfragen zum Verhältnis von Ich und Freiheit und von Ich und Gesellschaft sind menschheitsgeschichtlich schon früh gestellt und oft auch recht stimmig beantwortet worden.
Ich begreife den Inhalt der Protokolle ausdrücklich als Vorüberlegung. Das besagt nichts darüber, ob sich dahinter nicht auch schon ein festgefügtes Weltbild verbirgt. Sollte dieser Eindruck entstehen, sehe ich keinen Grund, ihn zu verwischen. Weltbilder sind immer nur subjektiv. Sie bedrohen die Weltbilder anderer Menschen nicht. Die Gefahr geht von anderem aus: von den darin verborgenen Widersprüchen. Damit machen sich die Weltbilder – auch ohne Bedrohung von außen – ganz allein die Hölle heiß.
Die Protokolle sind als Studienbücher gedacht und auch als solche verfasst. Die Wiedergabe ihrer Inhalte ist epistemologisch inspiriert (s. meine Werke „Konstitutionsanalyse“, „Welt und Weltverstehen“ und „Theorie und Phänomenadäquanz – Die Arithmetik als Exempel“). Das ist schon daraus erkennbar, dass ich von Grundbegriffen und Grundsätzen ausgehe (axiomatische Methode), vor allem in den beiden Bänden zur Wirtschaft und zum Recht. Außerdem verwende ich bei der Darstellung Flussdiagramme, die leider aus Kostengründen (ausfaltbare Blätter!) den Büchern nicht beigegeben werden konnten. Der Gedankenfluss ist aber aus den Verzweigungen am Ende jedes einleitenden Abschnitts zu ersehen. Das erleichtert es den Lesern, bei der Vielfalt der zu behandelnden Gegenstände die Übersicht zu behalten.
Nicht alle in den Protokollen vorgetragenen Untersuchungsergebnisse sind leicht eingängig, vor allem nicht die in den oben erwähnten Anhängen des ersten Bandes. Durch Verweis auf nachvollziehbare Beobachtungen, durch systematische Darstellung und durch mannigfachen Gebrauch von Redundanzen versuche ich, das Studium jener Textpassagen zu erleichtern, die Verwickeltes oder Ungewohntes aussagen. Viele Querverweise sollen das Studium des Gesamtkonzepts erleichtern.
Die in den Protokollen vorgetragenen Inhalte werden nicht den Weg in jedes Herz finden. Manche liegen derart ferne vom Zeitgeist, dass es eine Lesergemeinde, die sich dafür begeistert, schwer haben wird, gebührend Anerkennung in der großen Öffentlichkeit zu finden. Solange Wohlfühlformeln und abgelebte Ideologien weiterhin das allgemeine Bewusstsein vernebeln, hat Aufklärung keine Chance. Aber ich bin guter Dinge. Dem Allgemeinbewusstsein geht langsam die Luft aus. Ihm gelingt es immer weniger, die Wirklichkeit durch seine Scheingebilde zu erdrücken.
Ich hatte oben schon angedeutet: Meine Bücher verdanken ihre Existenz nicht nur eigenen Bemühungen. Sehr einflussreich auf meine Arbeit waren die Forschungsergebnisse Anderer. Eine Explikation der Art, wie die hier vorgenommene, ist zu vielschichtig, als dass man ihr Resultat aus einem einzigen Kopf hervorzaubern könnte. Ich habe viele Gespräche geführt – nicht nur mit meinen Zeitgenossen, sondern auch mit jenen Verstorbenen, die ihre Forschungsergebnisse aufgeschrieben haben. Es besteht daher hinreichend Grund, diesen Menschen zu danken. Ich tue das dadurch, dass ich sie in meinen Texten umfänglich zitiere. Vor allem Autoren aus früheren Zeiten gewähre ich viel Raum. Ihre Aussagen sind nach wie vor aktuell, heute aktueller denn je. Vielleicht kann ich die eine oder andere Argumentationslücke in ihren Ausführungen schließen – aufgrund eigener Beobachtungen und Analysen. Meine Dankbarkeit gilt übrigens auch denjenigen, deren Ansichten ich widerspreche. Denn auch sie haben – wenn zwar bloß indirekt – wertvolle Anregungen und Denkanstöße geliefert.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es Leute gibt, die über das vorliegende Thema bessere Bücher schreiben können als ich. Ich zeichne nur Skizzen. Die würde ich nicht veröffentlichen, wenn ich nicht glaubte, dass sie von Anderen zu ansehnlichen Gemälden weiterverarbeitet werden könnten.
Wie jeder Sachbuchautor, der in die Jahre gekommen ist, habe ich eine Fülle von Literatur studiert. In den Literaturverzeichnissen der vier Protokollbände sind aber nur jene Werke aufgeführt, die ich im Text zitiere.