Robert Nef (robertnef@bluewin.ch; www.robert-nef.ch)
Ursprung der Menschenrechtsidee
Der Ursprung der Menschenrechte ist die Erkenntnis, dass man alles, was man an Rechten für sich selbst und seine Gruppe beansprucht, grundsätzlich jedem Mitmenschen in seiner Eigenschaft als Mensch ebenfalls zugestehen sollte.
Es gibt für diesen Ursprung verschiedene Datierungen. Eine recht weit verbreitete und im Zusammenhang mit dem Thema Menschenrechte durchaus sinnvolle Datierung geht ins Jahr 1789 zurück. Die „Erklärung der Menschenrechte“ in der französischen Nationalversammlung wird häufig als gemeinsame Geburtsstunde des politischen Liberalismus und des Sozialismus gedeutet, jene zwei sich zum Teil überlappenden und zum Teil konkurrierenden Strömungen gegen den Feudalismus des Ancien Régime. Etwas früher war – was in Europa gern „vergessen“ wird – die „Virginia Bill of Rights“. Beide Dokumente werden aber zu Recht als eine Frucht der Aufklärung bezeichnet.
Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch hat vor 40 Jahren, als es darum ging, den 20. „Geburtstag“ der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ zu feiern, ein beeindruckendes Buch herausgegeben, das eine Auswahl von Texten aus verschiedensten Kulturen und Zeitaltern abdruckt: eine wahre Fundgrube, die uns als Europäer auch ein bisschen zur Bescheidenheit mahnt. ( Le droit d’être un homme, UNESCO, Paris 1968, dt. Übers. , das recht ein mensch zu sein, Basel 1990.)
Wir Europäer bzw. Amerikaner haben weder die Freiheit noch die Menschenrechte „erfunden“ bzw. „entdeckt“, sie sind angelegt im Fundus der menschlichen Kulturgeschichte, die allerdings auch die grauenvollsten Beispiele der Verletzung von Menschenrechten überliefert. Waren es am Ende auch die Verletzer, welche die Defensive der Nicht-verletzt-werden-Wollenden in Gang setzten? Die Entstehung und Entwicklung der Menschenrechte kann aus dem immer weiträumiger geführten Kampf der freiheitsbewussten Verletzten gegen die machtbewussten Verletzer gedeutet werden. Sie sind kein frei interpretierbares „Geschenk“ des politischen Systems bzw. einer politischen Weltorganisation.
Der Wandel vom Menschenrecht als Freiheit vom Staat zum Menschenrecht als Anspruch an den Staat
Aus einer wohlfahrtsstaatlich inspirierten Sicht wird Freiheit zu einem Gut, das der Staat seinen Bürgern vermittelt und für sie produziert, und das daher durch Gesetzgebung, Politik, staatliche Leistung und Lenkung in Form eines möglichst vollständigen Katalogs von Grund- und Sozialrechten sowie von allerhand Infrastrukturen und Renten aktiv bereitgestellt werden soll. Im Vordergrund steht heute in Lehre und Praxis das sogenannte institutionelle Grundrechtsverständnis, und die Drittwirkung, zwei Tendenzen, welche die Freiheit als ein vom Staat aktiv zu ermöglichendes und zu vermittelndes aber auch grundsätzlich beschränktes Zugeständnis deutet. Die zukunftsträchtigere, freiheitlichere Gegenmeinung, Freiheitsrechte seien eine Generalklausel, ein Bollwerk gegen alle je einmal aktuell werdenden Bedrohungen durch einen freiheitsbeschränkenden und Wohlfahrt zuteilenden nationalen oder europäischen bzw. globalen Staatsapparat (Giacometti), verliert bei diesem Ansatz noch mehr an Terrain.
Menschenrechte bilden keine homogene Einheit
Tatsächlich steckt die Menschheit, was die Realisierung von Menschenrechten betrifft, immer noch in den Anfängen. Ein Blick in die Tageszeitung oder Tagesschau klärt uns darüber auf, wie verletzlich und wie gefährdet Menschenrechte sind, gerade auch in sogenannt „zivilisierten Ländern“.
Für den italienischen Staatsphilosophen Bobbio ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte „der bisher grösste Beweis für den consensus omnium gentium hinsichtlich eines bestimmten Wertesystems“ (S.9). Er sieht darin aber auch „einen Stillstand in einem noch längst nicht abgeschlossenen Prozess.“ Die aufgezählten Rechte sind für ihn keineswegs „die einzig möglichen Menschenrechte“. Bobbio zeigt aber auch die im allgemeinen unterschätzten Schwierigkeiten, „die mit der Substanz dieser Rechte selbst zu tun haben. Es ist erstaunlich, wie wenig man sich um diese Schwierigkeiten kümmert.“ Bobbio bemängelt, dass man die Menschenrechte „als homogene Einheit“ wahrnehme. Das Gegenteil sei der Fall. „Die Menschenrechte sind mehrheitlich nicht absolut, und sie bilden auch keine homogene Gruppe von Rechten“ (S. 28).
Drohender Missbrauch der Menschenrechte als klagbare Leistungsansprüche an den Staat
Die Menschenrechte werden heute zunehmend als Vehikel zur Verwirklichung „sozialer Gerechtigkeit“ durch Umverteilung missbraucht. Exzessive Umverteilung greift aber willkürlich in Eigentumsrechte und frei vereinbarte Rechtsverhältnisse ein. Die sogenannte Einheit des Menschenrechtskatalogs und der drei Generationen von Menschenrechten (die klassisch-liberalen, die sozialen und die „Solidaritäts- und Gruppenrechte“) ist ein Mythos, der in Lehre und Praxis kaum je hinterfragt wird. In der öffentlichen Diskussion wird mit dieser Mehrdeutigkeit ein undurchsichtiges Spiel getrieben, bei dem letztlich die freiheitsrechtliche „erste Generation“ der Menschenrechte der sozialrechtlichen „zweiten Generation“ und den „Gruppenrechten“ geopfert wird. Niemand ist grundsätzlich gegen Menschenrechte, aber es gibt inzwischen eine ganze Kaskade von Menschenrechtsgenerationen, die im staatlich garantierten Recht auf Arbeit, Recht auf Wohnung, Recht auf Bildung, Recht auf Wasser, Recht auf Gesundheit, Recht auf eine intakte Umwelt und im “Recht auf Liebe” (aller Kinder der Welt!) “gipfeln – alles Versprechungen, die letztlich nach oben, d.h. nach „noch mehr vom selben” ins Grenzenlose münden.
Menschenrechte als Rechtfertigung für zwangsweise Umverteilung
Man kann sich kaum mehr eine staatliche Aktivität oder Intervention vorstellen, die nicht irgendwie mit einem Kampf gegen sogenannte “Menschenrechtsverletzungen” dieser Art gerechtfertigt werden könnte. Durch die Hintertür der „aktiven Menschenrechtspolitik” marschiert der Etatismus mit dem Motto des „Primats der Politik” wieder auf die politische Bühne. Umverteilungspolitik und Gleichstellungspolitik fallen also aus dieser Sicht mit Menschenrechtsverwirklichung zusammen, und wer sich gegen die Umverteilung und den Zwang zur Gleichbehandlung (auch des Ungleichen) wendet, wird konsequenterweise als Feind der Menschenrechte abgestempelt. Die Umverteilung kann auf diesem Weg als Heilmittel gegen alles gepriesen werden, allerdings ein Heilmittel, von dem man nie mehr los kommt und immer höhere Dosen braucht. Das ist übrigens ein weiteres Argument für die Charakterisierung der staatlichen Umverteilung als suchterzeugendes Heilmittel, das letztlich mehr schädliche Nebenwirkungen als nützliche Hauptwirkungen zeitigt.
Verfehltes Menschheitspathos
Der ganze Menschheits-Pathos ist nichts anderes als die Utopie vom idealen Weltstaat, dessen Regierung offenbar ausgerechnet jene Ziele verfolgen würde, die man selbst auch hat. So etwas wie „die Menschheit“ existiert m. E. nicht, oder nur aus der Perspektive eines Gottes, und wer „die Menschheit“ als ein Sollen definiert, macht sich selbst zum Gott.
Sowohl die Idee der Freiheit als auch die Idee der Menschenrechte ist viel älter und viel universeller als das Völkerrecht.. Das Völkerrecht darf nun nicht instrumentalisiert werden, um die Menschheit schliesslich zu einer politischen Einheit zusammenzuführen, die im Widerspruch mit ihrer kulturellen Vielfalt stehen würde. Die erfolgreiche Durchsetzung des harten Kerns der Menschenrechte ist auf die Nationalstaaten angewiesen und darf nicht der Willkür und der immer wieder manifest werdenden Ohnmacht einer wenig strukturierten und auch demokratisch nicht legitimierten politischen Weltorganisation übertragen werden. Die Menschenrechte dürfen auch nicht dazu missbraucht werden, die Menschheit im Sinn einer politischen Organisation zur Trägerin eines zentralisierten Zwangsmonopols zu machen, dessen Missbrauchspotential demokratisch und rechtsstaatlich kaum zu kontrollieren wäre.
Menschenrechte lassen sich nicht aus einer global einheitlichen Natur des Menschen ableiten
Die in der Aufklärung verankerte Naturrechtsidee hat versucht, eine allgemeingültige „Natur des Menschen“ zu definieren. Wer an einer solchen Definition nicht mindestens mitbestimmen kann, liefert sich den religiös-kulturellen Vorstellung der jeweils tonangebenden Mehrheiten aus. Das Unterfangen, Menschenrechte aus einer völkerrechtlich zu definierenden „Natur des Menschen“ abzuleiten, muss in einer multikulturell-pluralistischen Welt scheitern. Die menschliche Natur entwickelt sich ja möglicherweise ausgerechnet in der Differenz zwischen dem, was am Menschen Natur ist und dem was an ihm bzw. in ihm Kultur geworden ist.
Thesen:
Die Menschenrechte haben durch die permanente Ergänzung des ursprünglichen Katalogs durch soziale Ansprüche ihren Stellenwert der Garantie von Freiheit und Menschenwürde eingebüsst. Sie sind heute ein politisches Einfallstor für etatistisches und kollektivistisches Gedankengut. Die Gerichte tendieren dazu, den Schutz der Freiheit vor Staatseingriffen zu einem Schutz der Staatsaktivität zugunsten eines heterogenen Pakets von Menschenrechten umzudeuten.
Eine unbeschränkte aktive Menschenrechtspolitik kann zum Freipass für die allgemeine Bevormundung im Leistungs- und Lenkungsstaat werden. Das Gleichstellungsprinzip wird in gleicher Weise missbraucht. Wenn Freiheitsrechte als Schranken für staatliches Handeln durch positive Menschenrechte und durch ein leistungs- und lenkungsstaatliches „institutionelles Grundrechtsverständnis“ ersetzt werden, sind einer Verstaatlichung aller Lebensbereiche keine Grenzen mehr gesetzt.
Der Versuch, die Menschenrechte global durch das Völkerrecht und internationale Gerichte auf eine definierbare „Natur des Menschen“ zurückzuführen basiert auf einer ideologischen Prämisse und ist zum Scheitern verurteilt.