Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com
Die Menschenrechte – sofern sie echte Freiheitsrechte sind (!) – ruhen auf einem einzigen Grundsatz: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. Dieser Grundsatz ist das erste und umfassende Naturrecht der Freiheit. Er begründet jedoch nicht alle jene „Menschenrechte“, die außerdem noch – neben den Freiheitsrechten – in Kodexen wie etwa der UN- oder der EU-Charta enthalten sind, nämlich Pflichten, soziale Ansprüche, Privilegien, Verbote usw. Der Gesellschaftskritiker Friedrich August von Hayek (1981) und der Menschenrechtler Norberto Bobbio (2007) haben die Widersprüche gezeigt, die durch derart unsinnig zusammengewürfelte Konglomerate für das gesellschaftliche Leben entstehen.
Das für alle gleiche Recht auf freie Meinungsäußerung, das für alle gleiche Recht auf freie Bildung, das für alle gleiche Recht auf Freizügigkeit, auf freie Religionsausübung und viele andere lassen sich aus dem oben genannten Grundsatz direkt oder indirekt ableiten (per Subsumtion). Der Satz ist gewissermaßen das Axiom für all diese Rechte, die Urform des Menschenrechts, sozusagen das Menschenrecht schlechthin. Der Grundsatz wurzelt letztlich in unserer naturgegebenen Freiheitsbegabung. Dabei wird die Natur als Rechtsgeberin unterstellt – aber eben nur unterstellt! (Dietrich Eckardt, 2022).
Nun wird das Menschenrecht vielfach als ein „Recht“ angesehen, womit man das friedliche Miteinander aller Menschen bewirken könne. Mit dem Menschenrecht meint man, das Faustpfand für die gegenseitige Verträglichkeit in der Hand zu haben. Insofern beansprucht man, sich beim Kampf für das Menschenrecht auf der richtigen Seite, auf der Front der Guten zu befinden.
Um beurteilen zu können, inwieweit der Anspruch gerechtfertigt ist, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf eine oft unbemerkte bzw. verschwiegene Eigenart des Menschenrechts richten. Deutlich sichtbar wird sie bei der Aufschlüsselung dieses „Rechts“ in seine Derivate. Es kann z. B. dem Recht auf freies Wohnen das Recht auf Freizügigkeit entgegenstehen. Wo ein Platz bereits besetzt ist, kann man nicht ohne weiteres hinziehen, um sich dort selber Lebensraum zu schaffen. Man müsste sich diesen gegen den Erstbesitzer erkämpfen. Und das bedeutet Krieg. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf Meinungsfreiheit, dem Persönlichkeitsrechte im Wege stehen könnten. Auch das kann zum Krieg führen, etwa vor einem Gericht.
Mir steht zwar so etwas wie Menschenrecht zu. Aber meinem Nachbarn auch. Das hat zur Folge, dass der durch dieses Recht ebenfalls Begünstigte meine Lebensentfaltung durch die seine behindern, mein Leben gar vernichten kann. Ich hätte gegen ihn nichts in der Hand, außer einer schwächlichen Berufung auf ein Recht, das wir beide haben, nämlich auf unser gemeinsames Naturrecht der Freiheit. Dieses Recht lässt auch eine (eventuell gewaltsame) Lebensentfaltung zu. Ich kann meinem Nachbarn eine solche mit keinem vernünftigen Argument verwehren. Denn auf welchen Beweis sollte ich mich stützen? Für die Existenz des Menschenrechts gibt es keinen Beweis.
Stellt man also die Derivate des Menschenrechts nebeneinander, dann findet man schnell, dass das Recht des Einen mit dem des Anderen kollidiert. Das ist der tiefere Sinn der These des Thomas Hobbes vom Kampf aller gegen alle (Nachdruck 2013; s. auch John Locke, Nachdruck 1977). Es kann zwar jedes Ich das Menschenrecht für sich in Anspruch nehmen. Aber dieses „Recht“ des einen schränkt dasselbe „Recht“ des anderen ein, vernichtet es unter Umständen sogar. Der sogenannte Naturzustand, in dem Jeder das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung hat, ist offenbar nichts anderes als ein verdeckter Kriegszustand.
Aus solchen Erwägungen ergibt sich: Bei aller Bedeutung des Menschenrechts als Banner der Freiheit und bei aller Wirkkraft als Schlachtruf gegen jede Form von Unterdrückung: dieses Recht schafft aus sich selbst heraus keinen Frieden. Auf das Menschenrecht lässt sich vielleicht der Anspruch auf ein freies Leben, aber nicht die Beseitigung des ursprünglichen Kriegszustands zwischen Menschen gründen. Diejenigen, welche die „Menschenrechte“ vollmundig proklamieren und sich davon das Heil der Menschheit versprechen, scheinen an diesem Punkt völlig ahnungslos zu sein. Das Menschenrecht und alle Ableitungen aus ihm fordern lediglich, was jedem Menschen kraft seiner Menschennatur zusteht, nämlich Freiheit. Es befriedet aber die Menschheit nicht.
Das Menschenrecht deklariert die Freiheit für alle und fordert damit – als Maxime – ein Existenzrecht für jedes nur mögliche menschliche Wesen. An dieser Maxime kann sich das Zusammenleben der Menschen zwar orientieren. Aber sie verbürgt den Frieden nicht. Dass sie uns zu friedfertigen Wesen machen könnte, ist eine völlig absurde Vorstellung.
Konflikte wie die oben beschriebenen entstehen bei der intersubjektiven Nutzung des Menschenrechts, haben also mit der Gesellschaftlichkeit des Menschen zu tun. Ein Robinson – allein auf der Insel – weiß davon nichts. Verfolgt man die Konflikte zurück bis auf ihren Ursprung, dann zeigt sich, dass sie im Menschenrecht selbst verankert sind. Das für alle Menschen gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung ist zugleich die Negation des für alle Menschen gleichen Rechts auf freie Lebensentfaltung. Der Menschenrechts-Grundsatz ist doppelgesichtig. Er hat einen Januskopf. Woran liegt das?
In dem Grundsatz ist nicht nur die Freiheit, sondern auch die Gleichheit aller ausgesagt. Weil hier allen die gleiche Freiheit zugesprochen wird, liegt darin schon das Gegeneinander der Freiheit des Einen gegen die des Anderen. Ich steht gegen Ich, Wille gegen Wille. Die geforderte Gleichheit bremst – im Verein mit der gleichfalls geforderten Allgemeinheit – die Freiheit beider. Man könnte die Aussage des Reinhard Sprenger: „An der Freiheit des Anderen kommt keiner vorbei“ (2013) auch so umformulieren: Jedem steht die Freiheit des Anderen im Wege.
Die Garantie der Freiheit im Menschenrecht birgt mit den Prinzipien Allgemeinheit und Gleichheit auch die Bändiger der Freiheit in sich. Die im Menschenrecht geforderte Gleichheit und die dort geforderte Allgemeinheit verweisen die im selben Recht gebotene Freiheit in ihre Schranken. Meine Rechtlichkeit muss – dem Freiheitsprinzip gemäß – möglichst uneingeschränkt sein. Sie sollte aber auch – dem Gleichheits- und Allgemeinheitsprinzip gemäß – dem Recht jedes Anderen Raum geben, und das bedeutet Einschränkung, im Konfliktfall Krieg.
Das soeben beschriebene Dilemma lässt sich nicht beseitigen, ohne das Menschenrecht selbst zu beseitigen. Das will aber niemand. Denn es ist unser Lebenselixier. – Nun hat die Menschheit das Dilemma schon früh erkannt und einen Weg gefunden, ihm zu entkommen bzw. mit ihm vernunftgerecht umzugehen: die Herausbildung eines ganz anders gearteten, nämlich des Statuarischen Rechts. Während das Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) eine ideelle Komponente in sich birgt, ist das Statuarische Recht ein aus dem Verstand geborenes, künstlich geschaffenes Gebilde. Hier finden wir jene Rechte, die unseren Alltag bestimmen: die lebensschöpfenden („positiven“) und die lebensschützenden („negativen“) Handlungsnormen.
Das Statuarische Recht ist es denn auch, was wir meinen, wenn wir konkret von bestimmten Ordnungsregeln, Verhaltensvorschriften, Handlungsnormen usw. sprechen. Es ist das von Menschen gesetzte Recht. Weil es gesetzt (= statuiert) ist, nennt man es so. Solches Setzen hat als Ergebnis das Gesetz (mittelhochdeutsch: gesetzede = das Gesetzte, Festgelegte).
Muss es neben dem in der Natur des Menschen verwurzelten Recht ein künstliches Recht überhaupt geben? Warum ist Statuarisches Recht notwendig? In vielen Rechtstheorien wird versäumt, diese fundamentalen Fragen zu stellen. Deshalb fehlt dort ein solides Gerüst, das eine verlässliche Stütze sein könnte für unsere alltäglichen Bemühungen um Gerechtigkeit. Ein Sinn für die Notwendigkeit eines klaren und deutlichen Bekenntnisses zu den Freiheitsrechten und für die Dringlichkeit einer sachgerechten Ausformung des Statuarischen Rechts konnte sich deshalb bisher nicht entwickeln.
Das Statuarische Recht ist eigentlich dasjenige, was wir im Alltag „Recht“ nennen. Von diesem sagt Kant: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann… Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit [dem auch von Kant sogenannten ‚Menschenrecht‘] zusammen vereinigt werden kann“.
Das Menschenrecht kann man nur explizieren und auf einen praktikablen Begriff bringen aber nicht eigens schaffen. Anders das Statuarische Recht. Hier kommt der Mensch nicht bloß als Explikator, sondern als Akteur ins Spiel. Sein freier Wille ermöglicht ihm, sich selbst solches Recht zu setzen und dadurch sein Handeln zu normieren. Erst die Normierung des Handelns schafft Frieden zwischen den Menschen. Sie findet weitgehend in Form von Verträgen statt. Verträge schließt man, um sich zu vertragen.
Das Versäumnis der Schöpfer der Menschenrechtscharta der UNO, das Statuarische Recht begrifflich klar vom Naturrecht der Freiheit (Menschenrecht) abzuscheiden, hat zu den merkwürdigsten Erscheinungen in der Gesellschaft geführt. Die Rechtsverfälschungen, die dort zu verzeichnen sind (die sich z. B. aus dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ergeben), gehen zum großen Teil auf dieses Versäumnis zurück. Rechtsansprüche, die in modernen Gesellschaften oft unbillig und mutwillig gestellt werden, haben hier ihre Wurzel. Ja, man wird sagen können, der Mangel an Menschenwürde, der die derzeitigen Rechtsgemeinschaften kennzeichnet, ist begründet in der unzureichend klaren Abgrenzung des Statuarischen Rechts vom Menschenrecht.
Das Kriterium für die Unterscheidung z. B. eines bestimmten positiven Rechts vom Menschenrecht ist die Verklammerung von Recht und Pflicht beim positiven Recht. Beim Menschenrecht und seinen Derivaten handelt es sich um pure Rechte, also Rechte ohne Pflichten („dutyless rights“). Als pure Rechte binden sie niemanden, verpflichten zu nichts. Angeblich sollen sie die Obrigkeit der Gesellschaft verpflichten, indem sie diese dazu bringt, der Lebensentfaltung ihrer Untergebenen Freiraum zu gewähren.
Aber wer zwingt die Obrigkeit, dies zu tun? – Hier bleibt nur die Hoffnung, dass sie beliebt, es zu tun. Die Proklamatoren des Menschenrechts hoffen auf eine gewisse Liebenswürdigkeit der Obrigkeit ihren Untergebenen gegenüber. Sie setzen die Einklagbarkeit dieses „Rechts“ voraus. Aber diese Einklagbarkeit (z. B. der sogenannten „Grundrechte“ in der deutschen Verfassung) ist pure Fiktion. Auf das Menschenrecht kann man sich nur berufen. Für eine Klage hingegen bedarf es ganz bestimmter, z. B. in Verträgen festgeschriebener positiver Rechte, so dass man die ihnen korrespondierenden Pflichten einfordern kann. Wo sind die Pflichten, die beim Menschenrecht verletzt wurden?
Fazit: Die Realisierung des Menschenrechts schafft Freiheit; die Realisierung des Statuarischen Rechts schafft Frieden. Das Statuarische Recht steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen jeder das Menschenrecht (Naturrecht der Freiheit) für sich nutzen und ausleben kann. Das Menschenrecht hat kein Sein im Sinne eines erkennbaren Naturdinges. Es verdankt seine Existenz letztlich einem Bekenntnis. Es basiert auf nichts anderem als auf dem Willen eines Ich, es gelten zu lassen. So etwas wie „Menschenrecht“ gibt es nur, weil und wenn das Ich dazu steht. Gut, wenn auch ein machtbegünstigtes Ich dazu steht. Wehe den Machtlosen, wenn ein solches Bekenntnis bei den Mächtigen fehlt!
Zitierte Literatur:
Bobbio, Norberto, Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 2007
Eckardt, Dietrich, Protokolle der Aufklärung, Band 1: Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum heutigen Bildungsbetrieb, Berlin 2022
Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg/Lech 1981
Hobbes, Thomas, Leviathan, Nachdruck Stuttgart 2013
Locke, John, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. Nachdruck 1977
Sprenger, Reinhard, An der Freiheit des Anderen kommt keiner vorbei, Frankfurt/M. 2013