Die Beleidigung – ein Delikt?

Dietrich Eckardt (www.dietrich-eckardt.com; email: diteck@t-online.de)

Der Gesellschaftstheoretiker Murray Rothbard beanstandet, dass man die Beleidigung in den abendländischen Rechtskodizes zum Delikt erklärt hat. Er lehnt die Bestrafung von Beleidigungen ab und begründet dies damit, dass niemand ein Recht auf Reputation habe (2012, Bd. 2). Nun ist durchaus denkbar, dass eine derartige Begründung angezweifelt werden könnte. Dies allein sollte Anlass sein, sich dem Thema „Beleidigung“ noch einmal etwas genauer zuzuwenden.
Jede Gesellschaft hat mehr oder weniger festgeschriebene Handlungsnormen. Neben den Normen für positives Verhalten, den Geboten, gibt es auch Normen gegen positives Verhalten. Das sind die Verbote. Gebote fordern, Verbote hingegen hemmen und unterdrücken Handlungen. – Handlungen, gegen die Verbote ausgesprochen werden, sind gewöhnlich Rechtsverstöße, jedenfalls sollten es nur solche sein. Rechtsverstöße ändern oder vernichten einen Rechtsstatus gegen den Willen der Rechtsinhaber. Diese Aussage lässt den Begriff „Rechtsverstoß“ allerdings inhaltsleer. Der Begriff muss konkretisiert, d. h. durch Tatbestände gefüllt werden. Nur dann ist er für die Rechtspraxis brauchbar. Eine Kodifizierung solcher Tatbestände, z. B. Diebstahl, Raub, Verschmutzung jeglicher Art (Gewässer, Straßen, Wälder, Luft) usw. läuft immer darauf hinaus, irgendwelche Behinderungen der Nutzung von Eigentum aufzulisten. Dazu gehört die Behinderung der Nutzung des eigenen Leibes (des Leibeseigentums). Hier kann die Behinderung eine Verwundung oder gar Tötung sein. Kurz: Ein Kodex von Rechtsverstößen „würde auf dem… Angriffsverbot gegen Personen und deren Eigentum beruhen“ (a. a. O.).
Müsste ein solcher Kodex die Beleidigung als Tatbestand enthalten?
Eine Beleidigung an sich ist keine Einbuße der Eigentumsnutzung. Das könnte sie nur dann sein, wenn sie eine Lüge enthält. Sie erzeugt zwar oft seelisches Leid und führt unter Umständen bei denen, die sie ernst nehmen, zu langanhaltenden psychischen Belastungen. Man muss sie aber nicht ernst nehmen. Ein seelisch robuster Mensch ignoriert Beleidigungen. Er weiß, dass die Beleidigung mehr über den aussagt, der sie ausspricht, als über den Adressaten. Das Leid, das der Adressat einer Beleidigung empfindet, kann – das sehen Viele nicht – durch eine x-beliebige Aussage ausgelöst sein! Dort, wo sie auf willfährigen Boden fällt, etwa bei labilen Menschen, schafft sie ein Problem. Mit anderen Worten: Nur dem Seelenzustand des Adressaten ist es geschuldet, ob eine Aussage als beleidigend empfunden wird oder nicht.
Man kann eine Beleidigung auch als Ungehörigkeit abtun. Eine Ungehörigkeit, die keinen dinglichen Schaden anrichtet, kann nur Ungehörigkeit heißen, ist aber kein Rechtsverstoß. Denn sie behindert die Eigentumsnutzung nicht. Der Adressat einer Ungehörigkeit kann lediglich eine mündliche Entschuldigung fordern, aber nicht z. B. eine Wiedergutmachung des angeblich angerichteten Schadens.
Erklärt man die Beleidigung zum Delikt, dann wird man sie folgerichtig gesellschaftlich sanktionieren müssen. Nun geraten Sanktionen schnell in Konflikt mit dem Menschenrecht, im vorliegenden Fall mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Will man derartigen Konflikt vermeiden, muss eine klare begriffliche Abgrenzung vorgenommen werden zwischen Beleidigung und Rechtsverstoß. Mit anderen Worten: die Beleidigung muss entkriminalisiert werden. Sonst müsste man sinnigerweise auch eine Verfluchung kriminalisieren. – Eine Person beleidigen, das bestraft die heutige Gesellschaft gern. Eine Person verfluchen, dies bleibt seltsamer Weise straffrei.

Insbesondere zum Recht auf freie Meinungsäußerung (s. o.) wäre noch zu ergänzen: Das Recht muss auch „den größten Unsinn, das abseitigste Geschwätz und die radikalste Außenseiterposition“ gestatten. So jedenfalls verlangt es der legendäre Strafverteidiger Rolf Bossi (2005). Dies auch im vorliegenden Zusammenhang noch einmal ausdrücklich zu betonen, erscheint mir, und zwar vor dem Hintergrund der gegenwärtig eifrig geführten Fake-News-Diskussion, besonders angezeigt.

Zitierte Literatur:
Bossi, Rolf, Halbgötter in schwarz – Deutschlands Justiz am Pranger, Frankfurt/M.2005
Rothbard, Murray Newton., Für eine neue Freiheit – Kritik der politischen Gewalt, 2 Bände, Hrsg. Stefan Blankertz, Berlin 2012