Inflationsresistenter Zahlungsverkehr

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com

Nicht die funktionale, aber die essentiale Gelddefinition enthält als Wesensmerkmal unter anderem auch die Deckung des Geldes: „Währungsgeld ist die Gesamtheit der quantitativ bewerteten, symbolisch vergegenständlichten Versprechen, die gedeckt sind durch das Potential des Bankensystems, die mit seinen Emissionen in die Welt gelangte Schuld zu tilgen“ (s. Beitrag „Das Geld“). Die Banken delegieren die Tilgung oft per Darlehensvertrag, in dem ein Tilgungsversprechen festgeschrieben ist, an ihre Kunden. Vor Vertragsabschluss prüfen sie deren Tilgungsvermögen, also ihre Bonität. Die Bonität der Wirtschaftssubjekte (einschließlich der Banken) sichert die Substanz des Geldes in einer Kreditgeldwirtschaft.
Wenn die Deckung des Geldes, qua Bonität eines Wirtschaftssubjekts, bei der Geldschöpfung für dessen Substanzabsicherung ohnehin erforderlich ist, warum kann man sie dann nicht direkt in den Handel einbringen? Die „nackte“ Bonität selbst, also ein bestimmtes Güterlieferpotential und nicht erst das auf ihr basierte Tilgungsversprechen (welches das Geld generiert) würde direkt am Markt als Tauschmittel auftreten. Ein Tausch ist dann nicht mehr der Tausch Güterlieferung (etwa eines Küchengeräts) gegen Güterlieferung (etwa eines Geldbetrags), sondern der Tausch Güterlieferung gegen Güterlieferpotential. Das Güterlieferpotential (die Bonität) ist somit die eigentliche Kaufkraft des Wirtschaftssubjekts. Nicht das Geld, sondern die Deckung des Geldes geht direkt in den Tausch ein. – Monetisierung und Demonetisierung von Tilgungsversprechen bei der Geldschöpfung bzw. der Geldvernichtung (a. a. O.) entfallen. Sie werden ersetzt durch Liquidisierung und Deliquidisierung von Güterlieferpotentialen.
Alle Liefervermögen der Wirtschaftssubjekte, die einen Marktwert haben und deshalb in irgendeiner Weise verkäuflich sind, können liquidisiert werden. Das Vermögen kann sich auf die Lieferung eines Sachguts beziehen oder auf die Lieferung von Arbeit. Die Liquidisierung wird neben dem Liefervermögen von bereits existierenden marktgängigen Gütern (Besitztümern) auch solche Vermögen umfassen, mit denen marktgängige Güter erst hergestellt werden. Sie erstreckt sich also auch auf das Gütererzeugungspotential des Wirtschaftssubjekts. Das Erzeugungspotential erhöht das Güterlieferpotential.
Auch die Deliquidisierung bezieht sich auf Liefervermögen. Sie erfolgt immer dann, wenn die Marktteilnehmer Güter erwerben oder wenn sie Bonität delegieren (etwa in Form von Schenkungen oder von Krediten). Beim Erwerb eines werthaltigen Gutes erleiden die Marktteilnehmer einen wertgleichen Abschlag ihrer Bonität. Der Mensch erfährt – in seiner Rolle als homo oeconomicus – eine Wertminderung seiner Person. Sein Sachgüterhort hingegen gewinnt an Wert. Das gleiche geschieht bei einer Schenkung oder einer Darlehensvergabe. Auch Krediteure erfahren dabei eine persönliche Wertminderung. Sie erhalten anstelle von Gütern eine Forderung auf Wiedererlangung ihrer Bonität.
Liquidisierung und Deliquidisierung sind (eventuell elektronisch vorgenommene) Auf- bzw. Abnotierungen von Vermögenswerten in einem allgemeinen Register. Das Register befindet sich in den Händen einer zentralen Clearinginstanz. Eine solche Instanz ist die Voraussetzung für die volle Funktionstüchtigkeit eines geldfreien und zugleich optimal organisierten Wirtschaftssystems. Sie ist für allfällige Bonitätstransfers zuständig. Für ihre Registrierungs- und Transferarbeit erhält sie ein Honorar – zulasten des jeweiligen Auftragsgebers. Der heutige Giralverkehr trägt – rein technisch gesehen – schon viele Züge einer solchen Finanzpraxis.
Das Anbieten von Geld wäre ersetzt durch das Angebot, ein Teil der eigenen Bonität an die Bonität eines anderen Tauschpartners zu transferieren und deren Wert damit zu erhöhen. Der Liquiditätsminderung beim Sachguterwerber korrespondierte ein Liquiditätszuwachs beim Sachgutlieferanten.
Die Clearingzentrale wird die Bonität von Wirtschaftssubjekt zu Wirtschaftssubjekt direkt und ohne Zwischenschaltung weiterer Instanzen übertragen. Der heutige Interbankenverkehr, bei dem die Geldtransfers zwischen den Wirtschaftssubjekten auf einem (gegenseitigen) Befehlsweg zwischen den Banken stattfinden, entfällt.
Der Direkttranfer der Bonität zwischen den Wirtschaftssubjekten schlägt sich nieder im Register der Clearingszentrale symbolisch als elektronisches Dokument. Aufgrund dieser Einrichtung und dieses Verfahrens ist die Wirtschaft ein in sich geschlossenes System – ohne das Subsystem „Finanzwirtschaft“. Vermögenstranfers zwischen Wirtschaftssubjekten finden also ganz innerhalb der Wirtschaft selbst statt: als unmittelbare Übertragung von Subjekt zu Subjekt. Auch jede Schenkung oder jede Kreditierung von Bonität erfolgt zwischen den Wirtschaftssubjekten direkt.
Schuldverhältnisse gibt es nur noch an der „Basis“ der Wirtschaftsgemeinschaft. Geld und Bankensystem hätten keine Funktion mehr und mit ihnen der ganze theoretische und ideologische Schwachsinn, der sich um diese Institutionen inzwischen rankt. Der Handelsverkehr würde sich wieder ausschließlich an die „Basis“ verlagern, ähnlich wie bei der urtümlichen Tauschwirtschaft. Der Unterschied zu dieser ist: Die Wirtschaftssubjekte tauschen nicht nur mit Waren, sondern auch mit Warenlieferpotentialen (Bonitäten). Das ermöglicht eine optimale Allokation auf dem Gütersektor. Und der Traum des Franz Oppenheimer (des Lehrers von Ludwig Erhard) von der von ihm sogenannten „reinen Wirtschaft“ nimmt Gestalt an.
Solange die Bonität nicht in den Tausch eingebracht werden kann, entweder indirekt (wie bisher in Form von gedecktem Geld) oder direkt, funktioniert keine entwickelte Wirtschaft, auch eine geldfreie nicht. Das ist übrigens der Grund, warum die bisher existierenden Kryptowährungen die Welt nicht retten können. Haben ihre Emittenten keine nachweisbare Bonität, können sie die Welt nur zerstören. Dieses (Zerstörungs-) Potential haben sie mit bestimmten – nur mager oder gar nicht gedeckten – Wertschriften gemein.
Die beiden tragenden „Säulen des Tausches“ Evaluation und Quantifikation (s. Beitrag „Der Tausch“) bleiben bei einem geldfreien Zahlungsverkehr unverändert erhalten. Sie sind zur Einschätzung der wirtschaftlichen Güte (Bonität) eines Individuums unabdingbar. Das Kreditieren – als dritte Säule des Tausches (a. a. O.) – ist ebenso wichtig, und zwar für die Erzeugung von Bonität bei Anderen, vor allem bei Marktneulingen. Die Vergabe eines Kredits mutiert zu einer speziellen Form des Bonitätstransfers. Das Kreditieren ist ein privater Akt zwischen zwei Handelspartnern, ein Geschäft auf der Basis einer individuellen Vereinbarung. Ein solches Geschäft wird meistens einen Wertaufschlag beim Kreditgeber bewirken und einen Wertabschlag beim Kreditnehmer. Die dadurch entstehende Wertedifferenz kann weiterhin „Zins“ heißen.
Die Kreditierung erfolgt aufgrund einer Bonitätsprüfung. Ohne zumindest eine Berufs- bzw. Arbeitsfähigkeit ergibt solche Prüfung keinen Sinn. Wer als Kreditor die Prüfung nicht selbst vornehmen will, delegiert sie an eigens dafür ausgebildete Fachleute, die sogenannten Analysten. Die Analysten erhalten für ihre Arbeit ein Honorar von den Kreditoren.
Die Bewertung der Güterlieferpotentiale (Bonitätsprüfung) kann nur durch exquisite Wirtschaftsfachleute geleistet werden. Dies vor allem deshalb, weil sie auch die Bewertung der Güterproduktionspotentiale mit umfasst. Insofern wird nicht jeder Marktteilnehmer Analyst sein können.
An der Professionalität ihrer Arbeit haben die Analysten größtes Interesse. Denn sie müssen für Fehlentscheidungen bei ihrer Tätigkeit persönlich haften. Durch die Selbsthaftung kann die Gefahr gebannt werden, dass individuelles Versagen einen Schaden bei anderen erzeugt (Moral-Hazard-Theory). Also muss es bei den Analysten eine ihrem Risiko angemessene Haftreserve geben, die entweder individuell (durch persönliche Bonität) oder per Assekuranz zu gewährleisten ist.
Analysten sollten nicht in irgendwelchen Bankhäusern sitzen und in Akten oder an Computern studieren, sondern sich überall dort bewegen, wo Wirtschaft wirklich stattfindet und wo man die Dinge unmittelbar beobachten kann. Nur vor Ort gewinnen sie jenen Einblick in das Marktgeschehen, den sie für eine professionelle Beurteilung der Lage benötigen.
Vor Markteintritt muss ein Wirtschaftssubjekt eine bestimmte Anfangsbonität aufweisen. Sie kann durch ein Geschenk (Erbschaft) oder durch einen Kredit entstehen. Die Bonität des Marktneulings wird als quantifizierter Wert in das Register der Clearingzentrale eingetragen, quasi als Startvermögen. In der Folge erhöht sich dieses Vermögen nur noch durch Bonitätstransfers, d. h. bei Schenkungen, Krediten und Güterverkäufen. Es vermindert sich bei Schenkungen, Krediten und Gütereinkäufen.
In einem solchen (geldfreien) Handelsverkehr kann jedes Wirtschaftssubjekt so viele Güter vom Markt abrufen und zur Eigennutzung in Beschlag nehmen, wie ihm aufgrund seiner geprüften und im Zentralregister verzeichneten Bonität zustehen. Die Bonität ist sein aktuelles Schuldentilgungspotential. Mit anderen Worten: Sie ist seine aktuelle Kaufkraft. Hier wird deutlicher sichtbar als bisher: die Kaufkraft ist keine Eigenschaft des Geldes, wie viele Geldtheoretiker glauben. Sie ist eine Eigenschaft der Marktteilnehmer. Sie ist also ein persönliches Merkmal.
Für die numerische Evaluation, die am Markt stattfinden muss, benötigt man neben dem Zahlensystem noch einen Maßstab. Der ist erforderlich für die Bewertung jener Tauschgegenstände, die auf den Markt gelangen können, ist also Wertmaßstab. Er wird nicht nur zur Bewertung des Liefervermögens von real vorhandenen Gütern, sondern auch zur Bewertung jener Vermögen genutzt werden müssen, welche die Güter erst herstellen, also zur Bewertung von Gütererzeugungspotentialen. Idealerweise ist das ein einheitlicher und global verwendbarer Wertmaßstab.
Wenn eine zu dem hier vorgetragenen Finanzsystem passende Technologie soweit entwickelt sein wird, dass die Bonität eines jeden Marktteilnehmers über eine Clearingstelle zeitnah überall abgerufen und übertragen werden kann, benötigt man kein Geld mehr. Jeder Marktteilnehmer hat in dem alle Wirtschaftssubjekte umfassenden digitalen Bonitätsregister sein elektronisches Vermögensfach. Aus diesem Fach kann vollautomatisch eine Vergütung in Form einer bestimmten Anzahl von Wertmaßeinheiten („Value Tokens“) vorgenommen werden. Die Einheiten sind vergleichbar mit den sogenannten „Bonitäts-Scores“ von Unternehmen wie Schufa, Bonify und Boniversum. Ihre Symbole unterscheiden sich aber von den letzteren wesentlich dadurch, dass sie nicht nur irgendwelche valvative Charakteristika der Marktteilnehmer benennen, sondern darüber hinaus handfeste Vermögensteile, die real transferiert werden können.
Die soeben dargestellte Vision eines Zahlungssystems setzt voraus, dass die Vergütungen sämtlicher Güter – auch der kollektiven (!) – einzelleistungsbezogen und separat erfolgt und nicht pauschal, z. B. in Form einer Besteuerung. So wird die Frage bedeutungslos, ob die Daten des Systems, die sich in der Clearingstelle befinden, öffentlich oder nur privat zugänglich sein sollen. Nur Eines ist unverzichtbar: Sie müssen absolut gesichert sein gegen jegliche Form von Manipulation.
Eine Insolvenzgefahr wäre innerhalb der hier dargestellten geldfreien Wirtschaft sofort für alle sichtbar: die Bonität der gefährdeten Person geht gegen Null. Ist die Null erreicht, dann kann der Mensch nicht mehr Marktteilnehmer sein. Einen Konkurs und das damit u. U. riesige kostenträchtige und ressourcenvernichtende Verfahren wird es nicht geben müssen. Er wäre ersetzt durch die Abschaltung der Person im Bonitätsregister der Clearingzentrale. Diese Abschaltung ist gewissermaßen die Aufforderung, den Markt zu verlassen.
„Ewige Schuldner“ mit dem verborgenen Explosivpotential für den Markt gäbe es nicht. Alle Maßnahmen zur gekünstelten Verknappung der Finanzmittel wären überflüssig. Das aufwendige und ressourcenzehrende Rechnungswesen könnte entfallen. Für eventuelle Beweiszwecke speichert die Clearingzentrale die Daten aller am Markt vollzogenen Geschäfte (Blockchain-System). Die „Geldpolitik“ wird ersetzt durch eine exquisite Ausbildung der Analysten.
Einloggen und Identifikation innerhalb des Systems können durch einen persönlichen Fingerabdruck erfolgen. Ein Finger geht in der Regel nicht verloren, anders als z. B. ein Bargeldbetrag, eine Kreditkarte oder eine ID-Nummer. Nach Eingabe des Fingerabdrucks kann die Übertragung der „Tokens“ in das Boninätsfach der Sachgutlieferanten stattfinden.
In der geldfreien Wirtschaft verlieren Begriffe wie Inflation und Deflation im Sinne einer nachhaltigen branchenübergreifenden Preisveränderung bei den Sachwerten völlig ihren Sinn. Aber diese Wirtschaft wird – genau wie ihre Vorgängerin – allfällige Konjunkturschwankungen nicht verhindern können. Denn der Kaufwille der Individuen ist eine unberechenbare Größe. Eine Gesellschaft mit gesunder Wirtschaft wird mit solchen Schwankungen leben können.
Bei einem geldfreien Vergütungssystem gibt es im Vergleich zum Geldverkehr – neben den soeben aufgeführten – noch weitere Vorteile, die hier nicht, aber an anderer Stelle diskutiert werden sollen.

Zitierte Literatur:
Eckardt, Dietrich, Der Markt und seine Verzerrung, Berlin 2022