Inflation und Deflation

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com

Die Wertfestsetzung bei der Geldschöpfung bedient sich des Wertmaßes eines bestimmten Handelskreises, z. B. Euro, Dollar oder Yen. Genau wie bei der Geldbewertung kommt solches Wertmaß auch bei der Sachgüterbewertung ins Spiel. Beide Bewertungen sind voneinander unabhängig. Man muss sie unterscheiden. Die numerische Bestimmung des Geldwertes – Bewertung von Schuldentilgungsvermögen z. B. durch kreditierende Banken – ist die eine Sache. Die numerische Bestimmung der Sachgüterwerte – in Form der Preisermittlung – ist eine andere. Die beiden Werte können miteinander in Beziehung treten. Das ist beim Tausch der Fall.
Die Festlegung der Preise in Wettbewerbswirtschaften ist das unvorhersehbare Ergebnis freier Verhandlungen und individueller Entscheidungen (die durchaus fremdbeeinflusst sein können, z. B. durch Werbung). In einem unbehinderten Markt sind es stets einzelne Wirtschaftssubjekte, die eine numerische Güterbewertung vornehmen, m. a. W. die Preise festlegen. Dazu gehören auch die Banken, und zwar in ihrer Rolle als Bonitätsprüfer. Sie bewerten Sachgüter oft nur indirekt, weil sie bei ihren Prüfungen vorwiegend mit der Bewertung von Güterlieferpotentialen zu tun haben. Ihre Bewertungen sind aber durchaus marktwirksam.
Güterbewertungen sind souveräne und autonome Akte der Handelspartner und insofern subjektiv und situationsabhängig. Schon aus diesem Grunde kann es eine absolute Preisstabilität nicht geben (Ludwig von Mises, Nachdruck 1980 und 2005). Preisausschläge nach oben oder nach unten, die singulär auftreten, sind normal und alltäglich. „In einer Marktwirtschaft gibt es immer Preisbewegungen. Einzelne Preise steigen oder fallen als Folge von Verschiebungen in der Angebots- und Nachfragestruktur“ (Thorsten Polleit und Michael von Prollius, 2014).
Die Handelspartner müssen also damit rechnen, dass bei einem Tausch zum Zeitpunkt X‘ ein anderes Preis-Leistungs-Verhältnis herrscht als bei einem Tausch zum Zeitpunkt X. Der numerisch fixierte Wert eines Wirtschaftsguts ist ständigen Änderungen unterworfen. Zukunftsbezogene Wertberechnungen sind daher prinzipiell mit einem Risiko behaftet. Alle ökonomischen Kalkulationen stehen gewissermaßen auf wackeligen Füßen. Durch die Herausbildung relativ stabiler Marktpreise verringert sich das Risiko zwar. Aber ganz beseitigen lässt es sich nicht.
Ein rationaler Umgang mit einem Risiko besteht nicht darin, es zu vermeiden, sondern es in seine Entscheidungsfindungen einzubeziehen. Eine sachgerechte Kalkulation ist bemüht, das Risiko zu mindern, indem sie es einpreist. Der Produzent kann z. B. eine entsprechende Versicherung abschließen. Die verlangt einen Preis für ihre Leistung. Diesen Preis muss er bei der Produktpreiskalkulation als Faktor berücksichtigen.
Entscheidend bei Preiserhöhungen oder Preisminderungen ist letztlich der Wille zum Kauf bei den Marktteilnehmern. Ihr Wille veranlasst sie, entweder aus einer Lebensnot oder aus einer Lebenslust heraus zu kaufen oder auch nicht. Der unberechenbare Wille des Individuums wird in vielen ökonomischen Theorien vernachlässigt bzw. ganz außer Acht gelassen. Unter den vielen Faktoren, welche die Sachgüterpreise beeinflussen, ist der Wille zum Kauf oder zum Nichtkauf, mit anderen Worten: der Wille zum Horten oder Nichthorten von Geld, der wohl wirkmächtigste. Daraus erhellt, dass nicht nur das Ausgeben von Geld, sondern auch das Geldhorten (z. B. bei Banken oder in der Privatschatulle) einen erheblichen Einfluss auf die Güterpreise hat. Dieses Faktum ist vor allem von Silvio Gesell und John Maynard Keynes herausgestellt worden. Bei aller Reserve ihren Wirtschaftstheorien gegenüber: Sie haben erkannt und ausdrücklich betont, dass auch die Geldhorte eine große Bedeutung für den Markt haben, obwohl sie sich außerhalb von ihm befinden. Es wirkt also auch jenes Geld preisverändernd mit, das sich gar nicht auf dem Markt befindet.
Der Kaufwille der Marktteilnehmer ist vor allem auch beeinflusst von Zukunftserwartungen. Die Marktteilnehmer antizipieren aufgrund bestimmter Anzeichen künftige Preisentwicklungen. Die Antizipation kann zum aktuellen Geldausgeben oder zum Geldeinbehalten veranlassen. Vermutet man kommende Preissteigerungen, dann bestärkt dies den Entschluss, schon in der Gegenwart Dinge zu erwerben, die man vielleicht erst später braucht („Hamsterkäufe“). Verhalten sich Viele so, dann hat das einen Selbstverstärkungseffekt in Richtung Preiserhöhung. Horten die Marktteilnehmer ihr Geld und treten damit nicht in den Handel ein („Kaufenthaltung“), dann sinken die Preise. So können bloße Vermutungen in Bezug auf künftige Preisentwicklungen und ein entsprechendes Verhalten eine Inflation herbeiführen und auch in diese Richtung selbstverstärkend wirken (self-fulfilling-prophecy).
Preisverschiebungen treten oft, aber nicht immer, mit Verzögerung auf. Wird der Kaufwille in eine positive oder eine negative Richtung hin hysterisiert („Panikkäufe“ oder „Angstsparen“), und zwar bei vielen Individuen auf einmal, kann sich bei den Preisen schnell ein „Hyper“ nach unten oder nach oben herausbilden. In der zweiten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts trat in Deutschland sowohl das Eine als auch das Andere in Erscheinung.
Damit sind wir beim Thema „Inflation und Deflation“. Man spricht erst dann ausdrücklich von einer Inflation oder einer Deflation, wenn die Preisänderungen nachhaltig und flächendeckend sind. Erst eine dauerhaft marktumfassende Preisveränderung, vor allem bei den Gütern des täglichen Bedarfs, wird so genannt. Im letzteren Fall spricht man auch von der Erhöhung oder dem Niedergang der „Lebenshaltungskosten“ oder des „Verbraucherpreisindexes“ (VPI).
Inflation und Deflation sind nichts Unnatürliches oder gar Unrechtes. Sie sind die überaus ehrliche und legitime, wenn auch zuweilen harte Antwort des Marktes auf ein bestimmtes Fehlverhalten der Marktteilnehmer (übrigens auch der Banken, worauf ich in einem späteren Beitrag noch zu sprechen komme). Der Markt korrigiert dieses Fehlverhalten – in Form eines Selbstreinigungsprozesses. Inflation und Deflation sind immer nur Säuberungen und keine Verzerrungen des Marktes. Vom rein ökonomischen Standpunkt passiert hier nichts Schlimmes. Die sozialen Folgen solcher Vorgänge können allerdings dramatisch sein. Manchmal führen sie zur Totalzerrüttung einer Gesellschaft (Argentarius, 1921; Hans-Werner Sinn, 2021).
Die Preisinflation ist begründet in einer Angebotslücke (Otmar Issing 2015: „Güterlücke“) und die Preisdeflation in einer Nachfragelücke. So wie die Konkurrenz der Verkäufer die Preise nach unten treibt, so treibt die Konkurrenz der Käufer die Preise nach oben.
Eine Inflation kann auch dadurch verursacht sein, dass bestimmte Ressourcen eines Wirtschaftsbereichs absorbiert werden zulasten eines anderen Bereichs. Wenn z. B. Arbeitskräfte in eine andere Gewerbesparte abwandern, weil sie dort besser entlohnt werden, kann in der von ihnen verlassenen Sparte wegen fehlenden Leistungspotentials ein Unterangebot entstehen. Die Preise gehen in die Höhe, und zwar immer dann, wenn die dadurch fehlenden Wirtschaftsgüter nicht anderwärts – etwa durch preisgünstige Importe – herangeschafft werden können.
Sollte mit Deflation oder Inflation die nachhaltige Minderung oder Erhöhung der Güterpreise gemeint sein, dann wissen wir jetzt aufgrund früherer Ausführungen (s. mein Beitrag „Gutscheine und Wertschriften“), dass es sich dabei um nichts anderes handeln kann, als um eine Neuzuordnung der jeweils in Gebrauch befindlichen Wertmaßeinheiten zu den Kaufgütern – und übrigens auch zu Güterlieferpotentialen.

     Zuordnung von Wertmaßeinheiten (WE) bei Inflation und Deflation

Einer numerisch gleichbleibenden Menge von Wertmaßeinheiten wird mehr oder weniger Kaufgut zugeordnet. Sollten die Maßeinheiten auch die eines bestimmten Geldes sein, können die Kaufobjekte mit Geld gemessen werden. (Nicht nur Geld, auch andere Dinge können zur Wertmessung dienen, z. B. Zigaretten.) Kaufgut wird „teurer“ bzw. „billiger“. Beim Sachgütererwerb muss man jetzt mehr bzw. weniger Geld mitbringen. Im Falle der Inflation benötigt man mehr Geld, um die höheren Preise bezahlen zu können. Im Falle der Deflation benötigt man weniger.
Das Zuordnungsverhältnis zwischen Wertmaßeinheiten und Sachgut kann verbunden sein mit einer allgemeinen Stagnation wirtschaftlicher Aktivitäten, die z. B. eine große Arbeitslosigkeit zur Folge hat. Dann spricht man von Stagflation. Das Zuordnungsverhältnis kann sich auch ganz plötzlich ändern, ein Vorgang, der sich z. B. an Rohstoffmärkten und deren Börsen binnen Nanosekunden ereignet. Es gibt Computerprogramme, die so etwas zeitnah erfassen können.
Bei einer Inflation gelangen die Geldschuldner dadurch zu ihrem Vorteil, dass sie zum Zeitpunkt der Schuldenaufnahme zu den alten vorinflationären, also zu relativ günstigen Preisen einkaufen, jedoch irgendwann später mit Leistungen tilgen, die dann höher bewertet werden. Sie verdienen zu einem späteren Zeitpunkt mit ihren Produkt- bzw. Leistungsverkauf mehr Geld, tilgen aber nur mit der ursprünglich als Tilgungssumme vereinbarten Geldmenge. Eine Inflation vernichtet keine Ressourcen. Sie verschiebt nur die Besitz- und Eigentumsverhältnisse. An Volksvermögen geht nichts verloren. Es ist am Ende nur anders verteilt. Gleiches gilt für die Deflation.
Eine signifikante Preisänderung bei den Sachgütern schafft bei einigen Geldnutzern Leid, weil sie Eigentum verlieren. Bei anderen Freud, weil sie Eigentum gewinnen. Gesamtwirtschaftlich gesehen – halten sich Freud und Leid die Waage. Freud und Leid als Folge von Inflation und Deflation hängen auch vom Zeitpunkt des Güterkaufs ab: Wer sein Geld „zu spät“ ausgibt, leidet bei einer Inflation und gewinnt bei einer Deflation. Wer sein Geld „zu früh“ ausgibt, leidet bei einer Deflation und gewinnt bei einer Inflation.
Die negativen Folgen einer Inflation – qua allgemeiner Preissteigerung bei den Sachgütern – tragen zwar alle Geldnutzer, auch die Geldschuldner. Aber bei ihnen überwiegt der Vorteil. Die Geldgläubiger hingegen leiden doppelt. Sie haben nicht nur die höheren Güterpreise zu bezahlen, sondern müssen dabei zusehen, wie ihr einstmals angespartes Vermögen schrumpft, z. B. ihre Altersversorgung dahinschmilzt.
Weil die Anzahl der Wertmaßeinheiten des kaufenden Geldes starr bleibt, ganz gleich, was die Anzahl jener Wertmaßeinheiten macht, die dem Sachgut zugeordnet werden, sind Inflation und Deflation Erscheinungen, die nicht dem kaufenden Geld anhaften. Geld, das sich bereits (in eine bestimmte Menge von Einheiten gestückelt!) in der Welt befindet, kann nicht inflationieren oder deflationieren (Devisengeschäfte ausgenommen). Somit ist mit dem Wort „Geldentwertung“ – wenn es schon einmal in Gebrauch ist – offenbar etwas ganz anderes gemeint als ein Wertverlust beim Geld, nämlich die Erhöhung der Sachgüterpreise.
Der Nachteil für Geldgläubiger und Geldhorter bei einer Inflation erwächst daraus, dass die Zuordnung der Werteinheiten bei ihrem (bereits früher einmal geschöpften!) Geld starr bleibt, während sie sich bei den Sachgüterpreisen zu ihren Ungunsten ändert. Dadurch geht kein Vermögen verloren. Es erscheint nach der Änderung nur anders verteilt. – Inflation und Deflation würden als ganz normale ökonomische Erscheinungen wahrgenommen werden, über die sich niemand ereiferte, wenn damit keine Eigentumsumschichtungen verbunden wären. Denn die finden gegen den Willen der Eigentümer statt, vor allem zulasten der ökonomisch Schwachen.

Zitierte Literatur:
Argentarius (Pseudonym von Alfred Lansburgh), Vom Gelde, 3 Bände, Hamburg 1921 und 1923, Nachdruck Gärtringen 2016
Gesell, Silvio, Die natürliche Wirtschaftsordnung, 10. Aufl. Lauf 1984
Issing, Otmar, Einführung in die Geldtheorie, 15. Aufl. München 2011
Keynes, John Maynard, A Treatise on Money, in Collected Writings, London 1971
Mises, Ludwig von, Nationalökonomie – Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Nachdruck München 1980
Mises, Ludwig von, Theorie des Geldes und der Umlaufmittel, Nachdruck Berlin 2005
Polleit, Thorsten und Prollius, Michael von, Geldreform – Vom schlechten Staatsgeld zum guten Marktgeld, München 2014
Sinn, Hans-Werner, Die wundersame Geldvermehrung – Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation, Freiburg 2021