Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com
Es gibt zwei Grundformen von Handlungsnormen: die Gebote und die Verbote. Beide können selbstbewirkt und fremdbewirkt sein. Zudem können beide erzwungen werden – aufgrund von Selbstzwang oder aufgrund von Fremdzwang (s. mein Beitrag „Gebot und Verbot“). Ein Verbotszwang unterdrückt immer nur ein bestimmtes Verhalten und lässt alle anderen Handlungsmöglichkeiten offen (Rechtsprinzip des Verbotsvorbehalts: „Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt“). Ein Gebotszwang hingegen verlangt eine bestimmte Handlung ab, und unterdrückt alle Handlungsalternativen (Rechtsprinzip des Gebotsvorbehalts: „Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten“).
Das Naturrecht der Freiheit, die Urform des sogenannten „Menschenrechts“, lautet: Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“. Was besagt das in Bezug auf die beiden Handlungsnormen Gebot und Verbot?
Sowohl der Gebotszwang, als auch der Verbotszwang sind Formen der Gängelei. Zwischen oktroyierten Geboten und oktroyierten Verboten besteht jedoch ein großer Unterschied: Vernünftige – wenn auch erzwungene – Verbote erhalten die Freiheit des Individuums. Deren Vernünftigkeit leitet sich von der Goldenen Regel ab: „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem Anderen zu“. Wer diese Regel verstanden hat, akzeptiert den Zwang durch die daraus ableitbaren Verbote auch ohne fremdes Eingreifen. Oktroyierte Gebote hingegen, sie mögen noch so gut gemeint sein und das Beste für mich wollen, vernichten meine Freiheit, und zwar in jedem einzelnen Fall.
Negativer Zwang (Verbotszwang) reinigt die Aktionsvielfalt eines Individuums im Hinblick auf die gleiche Freiheit aller. Damit – und nur damit! – rechtfertigt sich die unumgänglich mit ihm verbundene Gängelei. Ein vernünftiger Verbotszwang steht somit im Einklang mit dem „Menschenrecht“. Die Prinzipien Allgemeinheit und Gleichheit in Verbindung mit der freien Lebensentfaltung verlangen verbotenes Verhalten. Mit dem Verbotszwang hat es also seine Ordnung.
Positiver Zwang (Gebotszwang) hingegen ist ein krasser Verstoß gegen das „Menschenrecht“. Deshalb gibt es in einer freien Rechtsgemeinschaft Fremdzwang nur in Verbindung mit Verboten. Die Handlungsnorm Verbot schränkt meine Freiheit zwar ein. Sie schützt meine Freiheit aber auch, wenn sie den Anderen auferlegt ist. Sie schützt die Freiheit der Anderen, wenn sie mir auferlegt ist. Ohne Verbotszwang kommt keine Rechtsgemeinschaft aus, auch die freieste nicht. Der Grund: Im „Menschenrecht“ ist die Lebensentfaltung für alle ausgesagt. Und es lässt sich zeigen, wie und warum das „Menschenrecht“ des Einen dem des Anderen entgegensteht, dieses manchmal sogar zunichtemacht. Das daraus erwachsende Problem ist dadurch lösbar, dass bestimmte Handlungen unterbleiben. Solche Handlungen sind verboten.
Fremdbewirkter Zwang hin zum Positiven (oktroyierter Gebotszwang) und Freiheit – das verträgt sich nicht. Fremdbewirkter Zwang hin zum Negativen (oktroyierter Verbotszwang) und Freiheit – das muss sich umwillen des gleichen Rechts freier Lebensentfaltung aller („Menschenrecht“) vertragen. Dieses „Recht“ akzeptieren heißt, verbindliche eigentumsschützende Verbote akzeptieren. Jenseits des Zauns des Verbotenen berechtigt es, all das zu tun, was anderen nicht schadet.
Wenn ich meine Freiheit in der Gesellschaft ausleben will, dann muss ich lernen: Das mir gebotene Verhalten darf ich aktivieren, das mir verbotene muss ich unterdrücken. Ich muss lernen: Freiheit innerhalb eines Rechtsgefüges ist nicht Spontanautonomie schlechthin, sondern gewährte Spontanautonomie.
Der Freiheitsgrad einer Gesellschaft (einer Ehe, eines Vereins, einer Forschergruppe, einer ganzen Nation) wird danach beurteilt werden können, wie viele Anteile von den beiden Handlungsnormen sie enthält. Da ist eine durch oktroyierte Verbote regulierte Gesellschaft zweifellos im Vorteil. Denn oktroyierte Gebote schränken die Freiheit wesentlich mehr ein als oktroyierte Verbote (s. o.).
In einer freien Rechtsgemeinschaft gibt es Gebote nur auf der Basis von Freiwilligkeit. In der zwangsfreien Bedeutung findet sich der Begriff in Ausdrücken wie „Angebot“, „Aufgebot“ oder „Abgebot“. Der Gebotszwang ist dort stets selbstbewirkt. Mit Verboten hingegen muss auch in der freiesten Gesellschaft notfalls fremdbewirkter Zwang verbunden sein. Viele (nicht alle!) fremdbewirkten Verbotszwänge sichern die freie Lebensentfaltung aller. Fremdbewirkte Gebotszwänge hingegen vernichten sie, und zwar immer.
Fremdbewirkte Verbotszwänge schaffen, sofern sie vernünftig sind und keine willkürlichen Eingebungen, Frieden unter den Menschen. Deshalb ist vom Freiheitsstandpunkt aus dagegen nichts einzuwenden. Sind hingegen Gebotszwänge fremdbewirkt, dann wird der Frieden früher oder später dahin sein. Denn solche Zwänge werden vom Ich als Nötigung, zumindest aber als Manipulation, empfunden. Und das erzeugt Hass. Sofern jedoch Gebote von dem dadurch betroffenen Individuum frei für sich gesetzt sind oder – beispielsweise als Sitte – freiwillig übernommen werden, sehen wir darin keine Nötigung.
Verbotszwänge sind im Gegensatz zu Gebotszwängen Bastionen gegen jene Aktivitäten, die das „Menschenrecht“ vernichten wollen. Sie bändigen die eigene Freiheit um der Freiheit willen, die bei anderen ermöglicht werden soll. Damit der Freiraum aller geschützt werden kann, muss freies Tun verboten sein. Mit vernünftigen Verboten schaffen sich die Menschen untereinander Räume für ihre je individuelle „kleine“ Freiheit. Insofern sind Verbotszwänge nicht immer von Übel, wie oft geglaubt. Sie sind die wirksamsten Garanten freier Lebensentfaltung für alle.
Mein Naturrecht der Freiheit („Menschenrecht“) innerhalb der Grenzen, die mir durch das gleiche Recht aller Anderen gezogen sind, ist dort verwirklicht, wo die Handlungsnorm Gebot von mir frei setzbar bzw. frei akzeptierbar ist. Einem Gebotszwang beuge ich mich nur dort widerspruchslos, wo ich mir den Zwang selbst auferlege, z. B. anlässlich freiwilliger Nachahmung oder einer freiwilligen Vereinbarung, der zufolge ich bestimmte Leistungen anbiete.
Auch ein Verbot kann vom Ich als rechtens anerkannt sein und somit Zwang entbehrlich machen. Die freie Akzeptanz von Verboten ist allerdings an eine Voraussetzung gebunden: Das Ich muss wollen, dass der Andere als eigenständiger Wille existiert. Dadurch nimmt es das andere Ich gewissermaßen in sich auf. Diese Leistung vollbringt es aber nicht als Geschöpf der Natur (als „empirisches Ich“), wie etwa auf dem Markt, wo es den Anderen als Bedürfnisträger in sein Eigeninteresse einbinden muss (s. mein Beitrag „Das Ich als Teil einer freien Wirtschaftsgemeinschaft“). Es vollbringt sie als Geschöpf des Geistes (als „intelligibles Ich“), d. h. aufgrund eines Willensaktes, der dem Du Selbstzweckhaftigkeit zugesteht.
Die Freiheit, das Gebotene zu nutzen, ist erst gesichert, wenn vernunftgerechte Verbote eingehalten werden – entweder aufgrund freier Anerkennung durch das Ich, oder aufgrund von Zwang gegen das Ich. Sollte mein persönlicher Entwicklungsstand es nicht zulassen, Verbotenes freiwillig einzuhalten, also den Anderen freiwillig als Selbstzweck zu akzeptieren und als solchen zu behandeln, greifen soziale Mechanismen, die das erzwingen – übrigens auf völlig menschenrechtsgemäße Art.
Welchen Unterscheid beobachten wir also bei Verboten und Geboten hinsichtlich ihres Bezugs zur Freiheit? – Verbotszwänge sind eindeutig freiheitskompatibler als Gebotszwänge.