Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com
Für das menschliche Handeln gibt es Normen. Sie geben dem Handeln die Richtung vor und regeln das Miteinander im Alltag. Wir nehmen sie oft als historisch gewachsene Größen wahr, und zwar vor allem in Form von Sitten und Gebräuchen. Handlungsnormen gibt es schon vor jeder ausdrücklichen Normenfestschreibung in Kodizes.
Beim Aufwachsen innerhalb einer Gesellschaft verinnerlicht der Mensch ein weitverzweigtes Netz solcher Normen. Weil einige von ihnen eine lange Geschichte hinter sich haben und fest im allgemeinen Bewusstsein verankert sind, liegt die Annahme nahe, sie stammten aus der Natur und wären so etwas wie „Naturrecht“. Das sind sie aber nicht. Sie sind allemal – wenn auch oft verdeckt – Geistesgeburten des Menschen. Sie sind Kunstgebilde, und dies offenbar schon seit mosaischen Zeiten.
Die Handlungsnormen erwachsen aus unserem Willen. Sie setzen erstens voraus, dass wir die Regulative unseres Handelns selbst bestimmen können – in Form einer Normensetzung. Zweitens setzen sie voraus, dass wir uns normgerecht verhalten können – in Form einer Normenerfüllung. Mit anderen Worten: sie setzen voraus, dass unser Wille unabhängig ist von äußeren Ursachen, wir also Selbstverursacher unserer Aktivitäten sind.
Handlungsnormen sind nicht nur Sache des privaten Umgangs miteinander, z. B. anlässlich eines moralkonformen Verhaltens innerhalb der Familie, sondern auch Sache des öffentlichen Lebens. Sie treten in zweierlei Gestalt auf: als Gebote und als Verbote. Der gesamte Verkehr zwischen Personen, sofern er Rechtsverkehr ist, erfolgt innerhalb des Rahmens, den diese beiden Grundnormen setzen.
Gebote sind Imperative (Befehle): „Mach das“, bzw. „Du sollst das tun!“ (wobei das „Du“ auch das befehlende Ich selbst sein kann). Sie fordern ein bestimmtes Verhalten ab. Weil sie ein Sein-Sollen beinhalten, sind sie „Sein-Sollens-Sätze“ (Adolf Reinach, 1953). Auch Verbote sind Imperative: „Lass das“ bzw. „Du sollst das meiden!“ (Wobei auch hier das „Du“ das befehlende Ich selbst sein kann.) Sie hemmen ein bestimmtes Verhalten. Weil sie ein Nicht-Sein-Sollen beinhalten, sind sie „Unterlassens-Sätze“ (a. a. O.). Gebote sind insofern positive, Verbote sind negative Handlungsnormen.
Um der begrifflichen Klarheit willen möchte ich das Wort „Gebot“ immer in Verbindung mit einem „Sein-Sollen“ und das Wort „Verbot“ in Verbindung mit einem „Nicht-Sein-Sollen“ verwenden – unerachtet anderweitiger Sinngebungen, etwa in Bibeltexten.
Sowohl eine Verhaltensforderung (Gebot) als auch eine Verhaltensabwehr (Verbot) kann – muss aber nicht! – unter Zwang geschehen: Entweder man erzwingt das Hervorbringen einer Aktivität: im Gebotszwang (z. B. was zu lernen ist, was in einem Vertrag enthalten sein muss, wie die Ehefrau ihre Haare färben soll, welchen Anzug der Mann zum Kirchgang zu tragen hat usw.). Oder man erzwingt das Unterlassen einer Aktivität: im Verbotszwang (z. B. Du sollst nicht töten, deinen Nachbarn nicht schädigen, nicht so laut schreien usw.). Der Gebotszwang ist – bezogen auf bestimmtes Handeln – ein Zwang hin zum Positiven, ein Seinsollens-Zwang. Der Verbotszwang hingegen, ebenfalls bezogen auf bestimmtes Handeln, ist ein Zwang hin zum Negativen, ein Nichtseinsollens-Zwang.
Der Mensch kann die Norm seines Handelns sich selbst erteilen. Dann ist das Handeln selbstbestimmt. Ihm kann sie aber auch von den Anderen auferlegt werden. Dann ist sein Handeln fremdbestimmt.
Selbstbestimmte Gebote sind individuelle Vorgaben, z. B. in Form von Gestaltungsvorschlägen, von Preisofferten, von Ratschlägen, von vertrag-lich vereinbarten Pflichtübernahmen usw. Das Gebieten ist hier überall ein Anbieten. Damit zwinge ich die Handlungsnorm „Gebot“ nicht anderen, sondern nur mir selbst auf. Denn jedes Angebot wird bei seiner Realisierung für den Anbieter ein Verhaltens-Gebot. Er will oder muss das Gebot in Form einer Schenkung oder einer Vertragsleistung erfüllen – in Gestalt einer Anweisung an eigenes Verhalten. Gebote können aber auch fremdbestimmt sein: „Du sollst das und das so und so tun! Wenn nicht, dann…“. Es folgt die Androhung einer Vergeltung. Solche Gebote sind Oktroyationen. Oktroyierte Gebote sind unangenehm. Wir unterwerfen uns ihnen nur dann ohne Murren, wenn wir sie uns – etwa auf dem Weg über freie An-Gebote (s. o.) – selbst geschaffen haben. Andernfalls empfinden wir sie als Nötigung.
Auch Verbote sind uns nicht immer von ichfremden Instanzen aufgezwungen. Zum Beispiel anlässlich einer Vereinbarung bietet jemand an, ein bestimmtes Handeln zu unterlassen. Er verbietet sich damit selbst etwas. Außerdem: es gibt die Selbstzucht und den Gewissensgehorsam, weswegen sich bestimmte Aktivitäten verbieten. Unser Wille befähigt dazu, Verbotenes auch ohne Zwang von außen zu unterlassen. Verbote können aber auch zwangsbewirkt sein. Dazu wird ein Verbot, wenn zu dem „Du sollst das und das meiden!“ hinzukommt: „Wenn nicht, dann…“ und die Androhung einer Vergeltung folgt. Zwangsbewirkte und fremdbestimmte Verbote sind ebenfalls Oktroyationen. Sie zwingen einen zwar nicht irgendwo hin. Sie zwingen einen von etwas weg. Sie sind aber – im Unterschied zu fremdbestimmten Geboten (!) – nicht immer Nötigungen, meistens nicht.
Ich beuge mich ohne Not dem – allen in gleicher Weise auferlegten – Verbotszwang, sofern damit die Lebensentfaltung aller gleichermaßen geschützt werden kann. Mein Eigeninteresse sagt mir, dass all das Jedem (auch mir) verboten sein muss, was mich (und auch die Anderen) schädigt. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu.“ Dieser Imperativ, die sogenannte „Goldene Regel“, scheidet die vernünftigen von den unvernünftigen Verboten. Vernünftige fremdbewirkte Verbote nehme ich nicht als Nötigung wahr. Unvernünftige hingegen werden – genau wie oktroyierte Gebote – zurecht als Nötigung empfunden.
Die bisherigen Aussagen über die Handlungsnormen deuten bereits ihre enge Beziehung zum Eigentum an (s. mein Beitrag „Besitz und Eigentum“): Eigentum ist gewährt – durch Gebote. Es ist geschützt – durch Verbote. Die Handlungsnormen sind also auf die beiden Möglichkeitsbedingungen der Nutzung von Eigentum ausgerichtet: Gewähr und Schutz. Durch ihren engen Bezug zum Eigentum sind die Handlungsnormen untrennbar miteinander verknüpft.
Ein sauber herausgearbeiteter Eigentumsbegriff ist unerlässlich, um klar erkennen zu können, wann ein Gebot bzw. ein Verbot vor dem Tribunal des „Menschenrechts“ bestehen kann. Beim Gebotszwang und beim Verbotszwang erkennt man das schnell. Gebotszwang ist dann menschenrechtswidrig, wenn er eine bestimmte Eigentumsnutzung gegen den Willen des Eigentümers vorschreibt. Verbotszwang ist es dann, wenn er auch dort ausgeübt wird, wo nicht ausdrücklich Eigentum zu schützen ist.
Zitierte Literatur:
Reinach, Adolf, Phänomenologie des Rechts – Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 1913, Nachdruck München 1953