Ein Leben jenseits des Marktes

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com

Bei allen Lebensformen bzw. Lebensnotwendigkeiten außerhalb des Marktes stellt sich das Problem: wie können Menschen, die für in Anspruch genommene Leistungen keine Gegenleistung erbringen, in einer freien Wirtschaftsgemeinschaft existieren? Gestattet diese Gemeinschaft ein Leben in Freiheit auch ohne Beteiligung am gemeinsamen Leisten, also ein Leben jenseits des Marktes?
Als freiheitskombatible und vernunftgerechte Lösung dieses Problems erscheint mir die Einrichtung von Ruhezonen in der Gesellschaft. In solchen Zonen sind die Bewohner von der Betriebsamkeit des Marktes abgeschottet. Die Gesellschaft kann hier spezielle Heimstätten schaffen. Man könnte sie Ruhehäuser nennen. Sie wären für die unterschiedlich gearteten Gruppen von Nichtleistungsträgern einzurichten. In den Ruhehäusern muss jeder solange bleiben dürfen, so lange er sie braucht.
Allen diesen Häusern ist gemeinsam: sie sind Aufenthalts- und Wohnstätten, in denen die Existenz der Bewohner gesichert ist. Dort werden sie rundum leiblich versorgt, was auch die ärztliche Betreuung einschließt. Sie sind mit gesunder Nahrung versehen und abgeschirmt vom Stress der Märkte. Die heute überall existierenden Studentenheime und ihre Ausstattung könnten Vorbild sein für solche Häuser.
Das Leben in den Ruhehäusern ist zwar auskömmlich, aber frugal. Ruhehäuser gestatten kein Wohlleben im gewöhnlichen Sinne. Sie gestatten ein Wohlleben ganz anderer Art: das Leben in Muße. Das bedeutet, dass die Menschen nicht in Tauschbeziehungen und Vertragsnetze eingebunden sind. In den Ruhehäusern brauchen sie das nicht. Sie können dort unbesorgt und frei leben.
Die Ruhehäuser gewähren alles Nötige zur persönlichen Weiterentwicklung. Sie sind daher mit den erforderlichen Bildungsmitteln ausgestattet bzw. mit Einrichtungen verbunden, die diese bereitstellen. Jedem sei ermöglicht, sich zu vervollkommnen, vielleicht auch, um sich später einmal in die Leistungsgesellschaft einzufügen, vielleicht aber auch nur, um eine Bewusstseinserweiterung bei sich zu bewirken. Jedenfalls ist dafür gesorgt, dass die Muße der Bewohner nicht zum „trostlosen Müßiggang“ (Ivan Illich) wird. Für ihren sozialen Kontakt gibt es geeignete Gemeinschaftsräume. Auch die jeweils dort vorhandene Mensa kann Treffpunkt für Gespräche und Gedankenaustausch sein.
Weil die Bewohner der Ruhehäuser keine marktgerechten Leistungen erbringen, können sie keine Tauschpartner am Markt sein. Deshalb besitzen sie auch das Tauschmittel Geld nicht. Der Nichtbesitz von Tauschmitteln aller Art ist die unabweisbare Konsequenz des Lebens außerhalb der Leistungs-Gegenleistungs-Gesellschaft. Die Bewohner der Ruhehäuser benötigen diese auch nicht. Sie haben alles, was sie zum Überleben und für ihre Weiterentwicklung brauchen. Eine Gesellschaft kann den Nichtleistungsträgern in ihrer Mitte so viel Lebensqualität gönnen, wie sie will. Aber das Ausreichen von Tauschmitteln, etwa Geld, um ökonomisch als voll berechtigte Tauschpartner „mit dabei zu sein“, widerspricht den Gegebenheiten eines Lebens außerhalb des Marktes.
Die Ruhehäuser bieten alle Voraussetzungen für eine menschliche Existenz. Aber sie werden wohl nirgendwo Stätten des Wohllebens sein. Eine Gesellschaft darf sie durchaus zu solchen machen – wenn die Mittel dafür auf freiwilligerer Basis zusammenkommen. Sie muss nur schauen, dass keine Tauschmittel in die Hände der Bewohner gelangen.
Die in Deutschland und anderswo lebhaft geführte Diskussion über das sogenannte „bedingungslose Grundeinkommen“ (Götz Werner, 2018 und Thomas Straubhaar, 2021), geht am Kern der Sache vorbei. Die Idee stammt ursprünglich von dem libertären Ökonomen Milton Friedman und dem amerikanische Präsidenten Richard Nixen (Family Assistance Plan). Das Vorhaben der Amerikaner und auch ein neueres Experiment in Finnland mussten scheitern. Denn die unbedingt notwendigen grundsätzlichen Überlegungen zu diesem ganzen Problemkomplex (s. mein Beitrag „Das Leben in Armut“) wurden nicht angestellt. Man wird sehen, welche Ergebnisse ein Experiment bringt, dass jetzt (2021) in Deutschland gestartet ist und bei dem ebenfalls jedes vernunftgerechte Konzept fehlt.
Wenn es hieße „bedingungslose Lebenshilfe“, kann man dem Begriff „bedingungslos“ einen vernünftigen Sinn abgewinnen. Die Vorstellung vom „bedingungslosen Grundeinkommen“ in Form z. B. der Ausreichung eines bestimmten Geldbetrags steht im kompletten Widerspruch zur Situation derjenigen, die sich ressourcenmäßig ganz jenseits der Geldwirtschaft bewegen. Außerdem: Die Redewendung „Einkommen“ täuscht eine Vergütung für eine real erbrachte Leistung vor.
Leistungsabstinenz befähigt nicht dazu, Mitakteur auf dem Markt zu sein. Dass man den Marktoutsidern dennoch das Tauschgut Geld ausreicht, damit sie „mit dabei“ sind, widerspricht ihrer Lebenslage. Die besteht ja gerade darin, dass sie nicht „mit dabei“ sind. Sie leben gewollt oder ungewollt außerhalb der Tausch- und Leistungsgesellschaft. Dem steht entgegen, dass sie über eigene Tauschmittel verfügen – gleich welcher Art.
Die Befürworter eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ verkennen, dass das Leben jenseits der leistungsteiligen Tauschgesellschaft ein grundsätzlich anderes ist, eine völlig andere Form von Gesellschaftlichkeit. Und die verdient ebenso viel an Achtung wie alle sonstigen sozialen Lebensformen.
Durch die Rede vom „bedingungslosen Grundeinkommen“ wird verdunkelt, dass Leistungsunfähige bzw. Leistungsunwillige nicht mündig im eigentlichen Sinne sind, nämlich nicht im Sinne einer Vollmitgliedschaft in der leistungsteiligen Tauschgesellschaft. Außerhalb dieser Gesellschaft existieren sie immer als Menschen, die ökonomisch und – in der Folge davon auch rechtlich – gewissermaßen in Vormundschaft leben, auch wenn dieser Umstand durch eifrige und weltfremde Propaganda vernebelt wird.
Eine Vormundschaft hat nicht nur Nachteile. In der Vormundschaft leben Menschen absolut frei, und das heißt auch: frei von Existenzangst, frei von Verantwortung und frei von jeglicher Beschaffungsbelastung, mit anderen Worten: frei wie die Kinder (Kinder hießen im Altertum übrigens „liberi“, die Freien). – Man kann nur dann sagen, man hätte eine freie Gesellschaft, also eine Gesellschaft, in der niemand in irgendeine Existenzform hineingepresst wird, wenn man gut organisierte Ruhestätten für Nichtleistungsträger hat. Die Nutzer dieser Stätten müssen aber zur Kenntnis nehmen: ihr Überleben ist das Geschenk anderer Menschen. Mit diesem Geschenk können sie – so sollte es jedenfalls sein – völlig unbehelligt leben. Sonst wäre es kein echtes Geschenk. In einer wirklich entwickelten Gesellschaft muss jedes Individuum darauf bauen können, dass es auch außerhalb der leistungsteiligen Tauschgesellschaft wohlbehalten existieren kann, und sei es auf Kosten anderer.
Eine Gesellschaft, die vernünftig organisierte Ruhehäuser hat, braucht sich nicht darum scheren, die Grenze zwischen arm und reich korrekt festgelegt zu haben. Eine „Armutsgrenze“ gibt es dann nämlich nicht. Stattdessen gibt es zwei völlig unterschiedliche, aber sozial gleichwertige Lebensweisen: das Leben innerhalb der leistungsteiligen Tauschgesellschaft und das Leben außerhalb.
Das Leben in den Ruhehäusern ist in der Regel zwar einfach und frugal, aber dennoch kein Leben „am Rande der Gesellschaft“. Es ist ein voll anerkanntes, sinnerfülltes und geachtetes Menschenleben inmitten der Anderen, wenn auch außerhalb der normalen Bürgerlichkeit und außerhalb des „Hamsterrads“ der Leistungsgesellschaft. – Der Gedanke, dass die Armenversorgung nichts weiter ist als ein verdecktes Almosensystem, kommt dabei gar nicht erst auf.
Ist das Problem der Versorgung der Nichtleistungsträger auf schlüssig-humane Weise gelöst, darf sich eine Gesellschaft den Luxus erlauben, jedes ihrer Mitglieder komplett nach eigener façon selig werden zu lassen, auch den Grübler, auch den Sinnsuchenden, auch den Bummelanten, auch den Faulenzer. Aus dem Naturrecht der Freiheit folgt auch (man prüfe es nach!): Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf freie Leistungsverweigerung.
Eine Gesellschaft mit dem heute üblichen „Sozialsystem“ kann dieses natürliche Recht nicht gewähren. Sie muss stattdessen hochbewehrte Eingangspforten vor die Fleischtöpfe ihrer „Outsider“ setzen. Durch diese darf nur gehen, wer sich einer Totaldurchschnüffelung unterwirft und sich dabei gewissermaßen nackt ausziehen muss. – Karitative Leistungen im Sozialstaat sind an Wohlverhalten gekoppelt. Zum Beispiel muss jeder Arbeitsfähige nachweisen, dass er sich unverzüglich und unentwegt um eine Arbeitsstelle bemüht. Das Leben in den Ruhehäusern ist frei von solchem Zwang. Denn der bewirkt oft einen Krampf, der an Würdelosigkeit jeder Beschreibung spottet. Es wird Zeit, dass dieser Krampf aus der Gesellschaft verschwindet. Damit könnte auch die lähmende Angst verschwinden, welche die freie Entfaltung des Lebens behindert. Es ist die Angst, nicht so sein zu dürfen, wie man gerade ist.
Außerdem: In einer freien Arbeitswelt, die jedem die Möglichkeit bietet, auch nicht arbeiten zu müssen, erübrigt sich jede Diskussion über sogenannte „Mindestlöhne“. Denn der Markt muss bei konsequenter Verwirklichung der Freiheit Arbeitslöhne bieten, die es attraktiv machen, die Arbeitslosigkeit zu verlassen.
Mit dem Aufbau und der Einrichtung von Ruhehäusern würde man die Millionen von Menschen, welche heute obdachlos sind und welche die erbärmlichen Obdachlosen-„Heime“ verschmähen, von der Straße holen können. Wohin das „menschenwürdige“ Versorgungsystem der Armen, das sich Sozialstaat nennt, schon heute geführt hat, konnte man einer Nachricht des ZDF vom 19.3.2019 entnehmen: 1,2 Millionen Menschen in Deutschland leben ohne Obdach in den erbärmlichsten Verhältnissen auf der Straße. In den USA sind es im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung weit mehr.
Anders als in den Obdachlosenunterkünften hat in den Ruhehäusern jede Person einen abgeschlossenen Raum für sich. Dieser Raum ist so etwas wie eine „Heimat“. Ein Mensch kann nur dann wahrhaft bei sich selbst sein, wenn er die Möglichkeit hat, sich von den Anderen zurückzuziehen – in seine persönliche „Heimat“, sei diese auch noch so klein.
Die Ruhehäuser werden von professionell arbeitenden Firmen eingerichtet und unterhalten. Diese Firmen bzw. ihre Betreiber übernehmen die Vormundschaft für diejenigen, die von ihnen beheimatet und versorgt werden. Die Häuser werden durch Stiftungen finanziert. Es existieren öffentlich zugängliche Listen mit Spendern, die solche Stiftungen unterhalten. Das heute in Europa stark verkümmerte karitative Stiftungswesen erführe dadurch eine Renaissance. Auch die enormen Ressourcen, die heute der „Tafel“-Bewegung zur Verfügung stehen, könnten in die Ruhehäuser fließen.
Die heute übliche Umlagefinanzierung führt immer dazu, die Verantwortung für Armut und Leistungsabstinenz auch denen aufzubürden, die sie nicht tragen wollen. Dieser Umstand tangiert eine heikle Frage: soll bzw. darf eine Gesellschaft das Schenken erzwingen? Diese Frage ist eine Rechtsfrage. Eine schlüssig-human organisierte Wirtschaftsgemeinschaft muss auch eine schlüssig-human organisierte Rechtsgemeinschaft sein. Und als solche muss sie verlangen, dass Eigentum nicht zwangsverpflichtet wird, auch für karitative Zwecke nicht. Andernfalls gerät Karitas unweigerlich in einen Widerstreit zu Menschenrecht und Freiheit. – Der Ökonom Hermann Heinrich Gossen hatte schon 1854 gesehen und begründet, warum das, was er „Mitleid“ nennt, keinen Einfluss auf die Einkommensverhältnisse der Wirtschaftssubjekte haben dürfe.

Zitierte Literatur:
Gossen, Hermann Heinrich, Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und den daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854
Straubhaar, Thomas, Grundeinkommen jetzt! – Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten, Basel 2021
Werner, Götz, Einkommen für alle, Bedingungsloses Grundeinkommen – die Zeit ist reif, Köln 2018