Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com)
Eine schlüssig-human organisierte Wirtschaftsgemeinschaft ist eine Leistungs-Gegenleistungs-Gesellschaft. Sie verlangt für jede erbrachte Leistung ihren Mitgliedern eine Eigenleistung als Vergütung ab. So auch den Kindeseltern, deren Nachwuchs Leistungen von Anderen beansprucht, für welche die Eltern aufkommen. So auch den Rentnern, welche die Inanspruchnahme solcher Leistungen aus ihren angesparten Ressourcen vergelten. Kinder treten im „Hamsterrad“ der leistungsteiligen Tauschgesellschaft nicht mit. Ihre Eltern tun das für sie. Rentner brauchen es nicht. Sie leben im „wohlverdienten Ruhestand“.
Darüber hinaus wird es in jeder Wirtschaftsgemeinschaft weitere Individuen geben, die in die Vorgänge des aktiven Leistens und Gegenleistens freiwillig oder schicksalsbedingt nicht eingebunden sind. Sie produzieren nichts und haben demzufolge auf dem Markt nichts anzubieten. Sie leben jenseits des Marktes. Das Leben jenseits des Marktes ist in der Regel ein Leben in mehr oder weniger großer Armut.
Immer noch scheint bei vielen gutversorgten Menschen eine gewisse Aversion gegen die Armut zu bestehen. Sie haben Mühe, Armut als reale Gegebenheit innerhalb einer Menschengesellschaft zu akzeptieren. Armut wird stigmatisiert. Das Stigma geht soweit, dass die Armutsfrage eher selten Thema theoretischer Erörterungen wird. So gibt es im öffentlichen Diskurs auf die Frage, wie Nichtleistungsträgern geholfen werden kann und wie sie auf schlüssig-humane Art sozial integriert werden können, kaum klare Antworten. Unappetitliche Humanitätsflausen machen die Runde. Es wird Zeit, sich diesem Thema ideologiefrei und nüchterner als bisher zuzuwenden.
Das Armutsproblem ist nicht dadurch lösbar oder gar aus der Welt zu schaffen, dass wohlwollende Gesetzgebung die Armenhilfe zu einem schamvoll verhüllten Almosensystem macht. – Um an diesem Punkt weiterzukommen und Missverständnissen vorzubeugen, sind einige grundsätzliche Vorüberlegungen erforderlich. Wer an das Phänomen „Armut“ vorbehaltslos heranwill, muss sich als erstes von ideologischem Ballast befreien.
Eine Hauptursache für die Verzerrung des Armutsproblems sehe ich in deren Vermengung mit dem Solidarischen. Eine Solidargemeinschaft ist geschaffen, um die Risiken des Lebens zu mindern: bei Verlust der Gesundheit oder des Hausrats, bei Ersatzleistungen aufgrund von Haftungspflichten usw. Wechselfälle des Lebens können Hilflosigkeit bewirken oder gar zum Tode führen. Vor den Folgen kann man sich schützen: durch Eintritt in Solidargemeinschaften, etwa in Form von Versicherungen. Ein solches Institut sorgt für eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sie nicht nur nutzen, sondern auch wirtschaftlich tragen. Eine Solidargemeinschaft basiert auf Tauschbasis, und zwar auf dem Tausch Geld gegen Schutz, Geld gegen Sicherheit. Die dadurch Begünstigten sind auch die Zahlmeister dieser Einrichtung.
Der Denkfehler bei der Ansicht, dass die Armenhilfe eine Solidareinrichtung zu sein hätte, besteht darin, dass die Hilfsbedürftigen, um die es hier ja geht, schon von vorneherein nicht in der Lage sind, eine finanzielle Leistung zum Unterhalt einer solchen Einrichtung zu erbringen, in Form etwa von Beiträgen. Ihre gesamte Existenz fristen sie aus dem Leistungspotential Anderer.
Bei der Armenhilfe wird ein Aufwand betrieben, werden Leistungen für Menschen erbracht, ohne dass dabei eine Gegenleistung je erfolgt. Zahlmeister und Begünstigte sind zwei voneinander getrennte Gruppen. Also entfällt das Merkmal der Gegenseitigkeit, welches das Solidarwesen kennzeichnet. Der Bereich der Armenhilfe ist ein Bereich völlig außerhalb des Solidarischen.
Eine weitere Verwässerung, ja geradezu Verballhornung der Armutshilfe resultiert aus deren Verkoppelung mit der Menschenwürde. Ein regelrechtes Hindernis in dem Bestreben, möglichst vielen Hungernden und Frierenden zu helfen, stellt die ideologische Verblendung dar, dass die materielle Versorgung eines Jeden „menschenwürdig“ zu sein habe. Bei den Proklamatoren einer „menschenwürdigen“ Armenhilfe scheint eine recht unausgegorene Vorstellung von Menschenwürde zugrunde zu liegen. Das Denken muss regelrechte Verrenkungen machen, um mancher zeitgeistkonformen Argumentation in Sachen „Menschenwürde“ noch folgen zu können.
„Was genau die Menschenwürde-Idee ausmacht, ist strittig… Der Würdebegriff brauchte [bisher] nicht weiter erörtert zu werden, weil dessen moralischer Stellenwert als unumstritten angesehen wurde. Ja, er durfte nicht einmal diskutiert werden, weil ihm etwas beinahe Heiliges anhaftete, von dem man fürchtete, dass es sich in terminologischen Erörterungen verflüchtigen würde“ (Arnd Pollmann, 2011). Das Wort „Menschenwürde“ ist zu einem glibberigen Begriffsmollusk degeneriert, das offenbar jede Aktivität für „etwas Gutes“ abdecken soll.
Die Berufung auf die „Menschenwürde“ bewirkt unter anderem, dass flotte Kraftfahrzeuge und aufwendige Kommunikationsgeräte bei vielen „Bedürftigen“ zu finden sind, wo andere nicht einmal das Nötigste gegen Hunger und Kälte haben. Bei der Knappheit der Ressourcen auf dieser Erde muss man bei allzu großzügiger Auslegung der „Menschenwürde“ Bedürftige abweisen, denen man sonst noch Hilfe zukommen lassen könnte.
Um die Menschenwürde für die Armenhilfe in Anspruch nehmen zu können, muss man sie materialistisch interpretieren. Dann kann aber nicht vermieden werden, dass die armen Bewohner einer reichen Nation als würdiger gelten als in anderen Nationen. Außerdem: Über kurz oder lang werden alle bedürftigen Erdenbewohner an Orte streben, wo es in materieller Hinsicht „würdiger“ zugeht, als in ihrer bisherigen Heimat. Wenn man Menschenwürde auf diese Weise interpretiert, muss man auch darauf schauen, dass diejenigen, die mit ihrer Opferbereitschaft die Armut erträglich machen, menschenwürdig behandelt werden. Das heißt, die Leistungsträger für die Armenhilfe sollten nicht zu Sozialsklaven heruntergedrückt werden. Wir sehen: Diejenigen, welche die Menschenwürde am materiellen Besitz festmachen wollen, haben uns Einiges zu erklären. – Statt unter den Menschen Neid zu schüren, sollten sie darauf schauen, dass einerseits die Nichtleistungsträger ausreichend versorgt sind und andererseits die für deren Versorgung herangezogenen Leistungsträger nicht zu Hilfskulis degradiert werden.
Armenhilfe ist Armenhilfe und Menschenwürde ist Menschenwürde. Es zeugt nicht gerade von intelligentester Denkungsart, beide Begriffe miteinander zu verbinden. – Der Begriff „Menschenwürde“ wurde in der Aufklärungsepoche für einen bestimmten und klar definierten Sachverhalt eingeführt, wie man z. B. bei Immanuel Kant nachlesen kann. Dass man ihn heute bei allen möglichen Gelegenheiten ins Spiel bringt, ihn sogar für die Armenhilfe missbraucht, zeigt, wie gnadenlos schlicht die abendländische Bildungstradition manchen unserer Zeitgenossen belassen hat.
Um sich um das Überleben ihrer „Outsider“ zu kümmern, braucht eine Gesellschaft nicht erst eine besondere (z. B. christliche oder die ihr verwandte „soziale“) Gesinnung. Jeder Mittellose würde in einer natürlich verbliebenen Gesellschaft Hilfe schon deshalb finden, „weil eine solche Gesellschaft seine… Not so wenig dulden würde, wie ein reinlicher Mensch einen Flecken auf seinem Kleide“ (John Henry Mackay, Nachdruck 1980).
Es war einer der größten Fortschritte in der Menschheitsgeschichte, als man lernte, diejenigen, die außerhalb des Marktes leben wollen oder müssen, nicht verhungern oder erfrieren zu lassen. Die Gesellschaft entwickelte von da an ein waches Gespür für die Hilfsbedürftigkeit einiger ihrer Mitglieder und für deren besondere Situation.
Bei der Versorgung der Nichtleistungsträger einer Gesellschaft kommt etwas ins Spiel, das von alters her Karitas (charity) heißt. Bei der Karitas treten Wesensstrukturen der Zwischenmenschlichkeit zutage, die mit dem Marktgeschehen nichts zu tun haben. Ein karitatives Potential war zwar immer schon – manchmal nur untergründig – in der Gesellschaft vorhanden. Es hatte sich – wie die Geschichte lehrt – in der einen oder anderen Form seit undenklichen Zeiten entwickelt.
Mit dem Wort „Karitas“ verbinden wir die Vorstellung, eine bestimmte Leistung nicht wegen eines Leistungstauschs zu erbringen, sondern auch ohne Tauschabsicht Güter anzubieten. Eine Hergabe von Gütern nennen wir dann karitativ, wenn vom Empfänger kein vollständiges oder überhaupt kein Äquivalent als Gegenleistung erwartet wird. Das karitative Leisten ist bedingungsloses Geben. Lebensnotwendiges wird hier verschenkt.
Eine karitative Hergabe von Gütern unterscheidet sich vom gewöhnlichen Schenken dadurch, dass es aus purer Barmherzigkeit erfolgt. In dem Wort „Barmherzigkeit“ steckt zweierlei, zum einen das Erbarmen, d. h. die Besorgung und Bekümmerung um das Erbärmliche (Hunger, Obdach- und Hilflosigkeit), zum anderen die Herzlichkeit, d. h. etwas von ganzem Herzen, spontan und freiwillig tun. Die Barmherzigkeit ist eine Emotion und damit ein ganz anderes Movens hin zur Armenhilfe als die „Menschenwürde“, die man dafür in Anspruch nimmt.
Wenn jemand frei und ohne Rücksicht um sein eigenes Wohl und Wehe Güter ohne Gegenleistung abgibt, dann bewegt uns das. Denn solches Verhalten bewirkt ein Verkleinern des Ich. So etwas rührt uns, weil der Strom des Lebens normalerweise in die andere Richtung fließt: Behauptung und Vergrößerung des Ich, Bewahrung, Absicherung, Entfaltung und Wachstum des dem Ich Eigenen. Die karitative Gesinnung, die außer dem Wohlgefallen an der Kreatur keinen weiteren Beweggrund hat, wird stets zu den edelsten und erhabensten Regungen des Menschengeschlechts gezählt werden müssen.
Wer Güter nicht auf- oder beibringen kann, von Krankheit geplagt ist, Burnout-Syndromen erliegt, oder sein Leistungspotential nachlässig verschlampt, geht in einer leistungsteiligen Tauschgesellschaft unter. Wer ein Leistungspotential wegen angeborener geistiger oder körperlicher Defizite nicht entfalten kann, geht in ihr gar nicht erst auf. Leistungsunfähige Menschen sind Versorgungsfälle. Hier ist das genuine Betätigungsfeld der Karitas.
Auch gibt es die sogenannten „Aussteiger“, also Menschen, die bewusst im Hamsterrad der Leistungsgesellschaft nicht mittreten wollen. Hier wird oft argumentiert, dass man diejenigen nicht mitversorgen darf, die aufgrund freien Entschlusses vom Zug der Arbeitswilligen abspringen oder von vorneherein nicht darauf aufspringen wollen. Sie hätten sich auch anders entscheiden können, heißt es, und müssten dann nicht „den Anderen auf der Tasche liegen“.
Dagegen ist einzuwenden: Eine wahrhaft freie Gesellschaft widerspricht sich selbst, wenn sie den freien Entschluss, aus dem Trubel von Güterproduktion und Gütertausch auszuscheren, nicht akzeptiert. Recht verstandene Freiheit heißt, man muss auch zur Arbeit nein sagen können. Mit Menschen, die aus der Betriebsamkeit des Marktes freiwillig herauswollen oder sich aus ihr herausschleichen, wird die Gesellschaft nach dem Motto „Jedem das Seine“ verfahren müssen. Sie muss nur allen klar machen, dass es einen Outsiderluxus nicht gibt. – Die sprichwörtliche Züricher „Luxuskaritas“ steht in einem krassen Widerspruch zur Idee der Karitas im Sinne einer Obdach, Kleidung und Nahrung bereitstellenden Hilfe für möglichst viele Arme.
Ein Mensch ist erst dann wirklich frei, wenn er nicht gezwungen wird, für seine Existenz zu arbeiten. Denn Freiheit besteht vor allem darin, positives Verhalten verweigern zu dürfen, sofern man Andere dadurch nicht schädigt. Zu diesem positiven Verhalten zählt auch die Arbeit. Arbeit ist dazu da, eine „normalbürgerliche Existenz“ zu sichern. Konsequent frei sind die Bürger in einer Gesellschaft aber erst, wenn sie eine „normalbürgerliche Existenz“ ausschlagen dürfen. Ein Leben in der Gesellschaft muss auch ohne Arbeit möglich sein. Das heißt unter anderem auch: Zwangsarbeit darf es in einer schlüssig-human organisierten Gesellschaft nicht geben.
Nur dann, wenn man jederzeit aus freien Stücken aus der Arbeitswelt aussteigen kann, wird Arbeit zwangsfrei verrichtet. So gehört die (gewollte oder ungewollte) Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut als unverzichtbarer Bestandteil in jede sich als frei wähnende Gesellschaft hinein. Eine schlüssig-human organisierte Wirtschaftsgemeinschaft wird die Arbeitspassivität von arbeitsfähigen Mitbürgern so lange dulden müssen, bis die in eine marktgerechte Aktivität von selbst hineinfinden. Die Idee der Freiheit lässt eine andere Denkbarkeit nicht zu. Ohne Arbeit oder ohne ausreichende Erbschaft wird allerdings in keiner freien Gesellschaft eine „normalbürgerliche Existenz“ zu sichern sein.
Unter den Leistungsunwilligen sind auch Individuen, die eine Besinnung auf sich selbst brauchen. Sie durchleben Phasen, in denen sie in Ruhe gelassen werden wollen. Ihr Ruhebedürfnis kann so groß sein, dass sie sich außerstande sehen, tauschbare Güter zu erzeugen und in den Markt einzubringen. – Es gibt auch Lebensphasen, die der persönlichen Aufklärung, etwa im Sinne der Kultivierung des Geistes dienen (cultura animi wörtlich: Beackerung der Seele), oder der Theoriegewinnung (theoria wörtlich: Überschau über das, was ist). In solchen Lebensphasen bringen Menschen Erkenntnisse hervor, die nicht technikrelevant und insofern auch nicht zu vermarkten sind. Dafür braucht man Freiräume außerhalb der gewöhnlichen Arbeitswelt, Räume, in denen solche Menschen von Existenzangst unbehelligt leben können. In diesen Freiräumen kultivieren die „intellektuellen Outsider“ ihre Geistesstruktur – und auch die der andern. Auf diese Weise können sich neue Paradigmen der Natur-, Welt- und Lebenserkenntnis entwickeln. Wer die Dringlichkeit eines solchen Anliegens in sich spürt, wird dafür gern ein Leben in Armut in Kauf nehmen.
Aus der real existierenden Armut erwachsen handfeste gesellschaftliche Probleme: Wie kann man als Nichtleistungsträger ein freies und voll erfülltes Leben innerhalb einer Leistungsgesellschaft führen? Wie bringt man die Freiheit der Armen mit der Freiheit der Armenhelfer zusammen? Welcher Ressourcenaufwand ist gerechtfertigt, um einerseits alle Nichtleistungsträger am Leben zu erhalten und andererseits die Leistungslieferanten nicht zu verprellen? Und nicht zuletzt: wie beseitigt man alle Anreize, die den Entschluss zu einem leichtfertigen Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft stimulieren?
Zitierte Literatur:
Mackay, John-Henry, Der Freiheitssucher, Psychologie einer Entwicklung, Nachdruck Freiburg/Br. 1980
Pollmann, Arnd, Menschenwürde, in: Gerhard Göhler u. a., Politische Theorie, Wiesbaden 2011