Abschied vom „ancien régime“ des Wohlfahrtsstaats

Robert Nef (robertnef@bluewin.ch; www.robert-nef.ch)

Jede Zeit ist eine Zeit des Wandels, und die entscheidenden Schritte und Quantensprünge werden meist erst im Rückblick wahrgenommen. Die Industriegesellschaft war das Resultat eines technologischen Wandels, welcher die automatisierte Massenproduktion ermöglichte und vorantrieb. Deren personelle und finanzielle Basis bildete eine Kombination von Investoren, Fabriken, öffentlicher Infrastruktur und einem organisierten und wohlfahrtsstaatlich abgesicherten Heer von an sich austauschbaren Arbeitern. Die Industriegesellschaft hat ihren Zenit längst überschritten und ist ihrerseits durch die Informationstechnologie in einem weiteren Entwicklungsschritt überholt worden. Das der Industriegesellschaft entsprechende politische System war der nationalstaatliche Korporatismus, in welchem die bürgerliche Führungsschicht mit der organisierten Arbeiterschaft einen „Deal“ vereinbarte. Wechselnde parteipolitische Koalitionen sorgten in Westeuropa dafür, dass private Gewinne mit öffentlicher Umverteilung kombiniert wurden, allerdings ohne taugliche institutionelle Bremssysteme zugunsten künftiger Generationen.

Inzwischen wurden die Fabrikarbeiter am Fliessband durch automatisierte Produktionsprozesse weitgehend ersetzt. Gefragt sind heute spezialisierte Fachleute im Netzwerk von Produktion, Beratung, Betreuung, Kommunikation und Verkauf sowie von Forschung und Entwicklung. Es trifft nicht zu, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Dienstleistungen sind personalintensiv, und wir sind in Europa diesbezüglich wegen unserer starren etatistischen „Sozialindustrie“ in verschiedensten Bereichen (Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Altenbetreuung) unter- und fehlversorgt.

Das Industriezeitalter hatte seine Licht- und Schattenseiten. Die Lebenserwartung und der Lebensstandard aller wurde markant und messbar angehoben und die pluralistische Massendemokratie hat eine gewisse Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willensbildung und Machtausübung ermöglicht, die allerdings dem Vergleich mit der genossenschaftlich orientierten Beteiligung in den altfreien Gemeinden nicht standhält.

Im Industriezeitalter sind aber auch die Kriege zu nationalstaatlich organisierten weltweiten Exzessen der Massenvernichtung geworden, da nicht nur die Produktion und der Konsum, sondern auch Gewalt und Tod industrialisiert worden sind. Als Kriegsfolge ist auch die Maschinerie des kollektivistischen Daseinsvorsorgestaats entstanden, der die Individuen gleichzeitig progressiv besteuert, versorgt und entmündigt. Die Industriekonglomerate sind bis nach dem Zweiten Weltkrieg als nationale Veranstaltungen begriffen worden. Kriege waren die Fortsetzung der Konkurrenz mit gewaltsamen Mitteln. Die beiden Weltkriege und der kalte Krieg wurden nicht zuletzt auch von nationalen militärisch-industriellen Komplexen geführt, und sie sind schliesslich auch an dieser Front entschieden worden. Sowohl der kapitalistische als auch der sozialistische Industrie-Kollektivismus wurde mit rechten und linken Staats- und Parteiideologien gerechtfertigt. Etatistisch waren beide Spielarten. Etatistisch ist auch der Versuch, den nationalstaatlichen Merkantilismus auf europäischer Ebene fortzusetzen.

Das Zeitalter des korporatistischen Industriekapitalismus, der nationalstaatlich organisierten Sozialdemokratie und des gebietsbezogenen umverteilenden Wohlfahrtsstaats neigt sich seinem Ende zu. Es kann mit guten Gründen als „ancien régime“ bezeichnet werden, das durch die international arbeitsteilige, global vernetzte, technische Zivilisation der Dienstleistungsgesellschaft abgelöst wird. Während der nationale Wohlfahrtsstaat auf generell-abstrakten politisch ausgehandelten Verbots-, Interventions- und Umverteilungsnormen basierte, können die gemeinsamen Probleme der Dienstleistungsgesellschaft immer weniger durch den Erlass von allgemeinverbindlichen gesetzlichen Normen gelöst werden. Der politische Prozess des kollektiven Aushandelns von Gesetzen und deren Legitimation durch demokratische Mehrheiten wird immer schwieriger.

Das „gemeinsam bewegliche Lösen gemeinsamer Probleme“ (so die Politikdefinition von Hartmut von Hentig) muss von der Kommunikation in flexiblen überlappenden Gruppierungen von den Beteiligten und Betroffenen selbst übernommen werden. Das Zwangsmonopol des territorial organisierten Staates, und die durch den Fiskus zwangsweise und ebenfalls nach territorialen Kriterien abgeschöpften Mittel, sollen nur im Ausnahmefall und nicht im Regelfall (und möglichst kleinräumig und subjektbezogen) zum Einsatz kommen. Das Normsetzungsverfahren der auf Dienstleistungen basierten Zivilgesellschaft ist daher die Privatautonomie und die prinzipielle Benutzerfinanzierung. Verträge und private Vereinigungen mit Vote- und Exit-Optionen offerieren jene Flexibilität, welche offene, global vernetzte Zivilgesellschaften charakterisiert.
 
Mit anderen Worten: Die Anhänger des industrie-basierten nationalen Wohlfahrtsstaats mit seinen bevormundenden hierarchischen Bürokratien in Politik, Fabrik und Staatskirche, glauben als Ewiggestrige im Grunde immer noch an ein etatistisches wohlfahrtsstaatliches „ancien régime“, und jene, die auf vielfältige, flexible, global vernetzte, privatautonom bestimmte Verträge und Vereinigungen bauen, sind die wahre Avantgarde.

Die Europäische Union ist von ihrer Entstehungsgeschichte und von ihren Strukturen her ein Versuch, die Krisen des national strukturierten, sozialdemokratischen Industriezeitalters auf supranationaler bzw. kontinentaler Ebene zu überwinden. Eigentlich werden aber die durch eine allgemeinverbindliche nationale Gesetzgebung nicht mehr lösbaren Probleme, z.B. in der Währungspolitik und in der tickenden Zeitbombe der kollektiven Altersvorsorge, einfach auf die europäische Ebene gehoben. Es geht um einen Versuch, das im Zeitalter der Globalisierung fragwürdig gewordene „ancien régime“ des auf National-Ökonomien basierenden Industriezeitalters künstlich noch eine Weile am Leben zu erhalten.

Wir sollten heute dem umverteilenden aber nicht nachhaltig zahlungsfähigen Wohlfahrtsstaats nicht nachtrauern, sondern aufzeigen, zu welchen Horizonten Politik, Wirtschaft und Kultur aufbrechen bzw. aufbrechen sollten. Die Prioritätenordnung in einer Zivilgesellschaft muss umgekehrt lauten: Zuerst Kultur (im weitesten Sinn), dann Wirtschaft (im weiten Sinn) und zuletzt Politik (im engsten Sinn), in einer Kaskade der Subsidiarität, oder, wenn man so will, des jeweiligen Primats.

Das von breiten Kreisen (auch von Linksliberalen) postulierte „Primat der Politik“ ist nichts anderes als der dogmatisierte Irrtum des 19. und 20. Jahrhunderts, der vom etatistischen (bzw. etatistisch gewordenen) Flügel der 68er noch einmal aufs Schild gehoben worden ist. Es ging und geht um die Ersetzung des Gottesglaubens durch den Glauben an den Staat. Dass man die politische Zwangsmacht durch das Mehrheitsprinzip dauerhaft und wirksam zähmen und relativieren kann, ist einer der verhängnisvollen Irrtümer der ausklingenden Epoche. Aus dieser Sicht ist eine abgrundtiefe Skepsis gegenüber den Etatisten und den Sozialisten in allen Parteien nicht einfach eine persönliche Marotte von dogmatisch fixierten Neoliberalen und Libertären, sondern das Markenzeichen eines umfassenden Paradigmenwechsels, für den einige sensible Publizisten den besseren Riecher haben mögen als eine Mehrheit der staatsfinanzierten Sozialwissenschafter, die – bezeichnenderweise – auch vom 1989-er Umbruch völlig überrascht wurden und die damalige Umstellung intellektuell immer noch nicht ganz nachvollzogen haben. Ausnahmen bestätigen die Regel.
 
Also: Auf, ins Zeitalter globaler, frei konkurrierender und kooperierender Zivilgesellschaften mit kleinen und schlanken und kostengünstigen politischen Strukturen. Abschied von den unbezahlbaren Imperien, weg vom korporatistischen nationalen Bevormundungs-, Umverteilungs-, Service-public- und Machtstaat!

Die gesamte Infrastruktur, auch für Gesundheit und Bildung, kann von den Benützern finanziert werden und man muss sie schrittweise in den Markt entlassen. Die Giesskanne des Sozialstaats ist durch gezielte Subjekthilfe zu ersetzen. Alles andere scheitert an den nicht entwirrbaren öffentlichen Geldströmen, die nicht mehr den ursprünglichen Motiven entsprechen und weder zweckmässig, noch gerecht noch nachhaltig finanzierbar sind. Mehr Empirie wagen! Non-zentral experimentieren, Erfolgreiches kopieren und Erfolgloses meiden, „Abgucken erlaubt und erwünscht“: Das ist die politische Strategie der Zukunft, und das ist die anzustrebende intellektuelle Argumentationsebene künftiger Auseinandersetzungen.
 
Jeder Abschied fällt schwer, auch der Abschied vom Mythos, der Fortschritt bewege sich in Richtung einer Perfektionierung der staatlich garantierten kollektiven Daseinsvorsorge nach den Vorgaben eines sozialwissenschaftlich erhärteten Expertenwissens. Wer an zwar populären, aber überholten Strukturen festhält, tut niemandem einen Gefallen und schaufelt sich sein eigenes Grab.