Dietrich Eckardt (www.dietrich-eckardt.com; diteck@t-online.de)
Monopolismus – so wurde in meinen Werken zur Wirtschaft und zum Recht ausführlich gezeigt – ist aus einer real existierenden Gesellschaft nicht wegzudenken. Zum einen enthält der Wettbewerb das Prinzip Monopolismus wesensmäßig in sich, indem er, und zwar als Wettbewerb, darauf aus sein muss, immer wieder Sieger zu erzeugen. Die können unter Umständen ihre Position in Richtung Monopol verfestigen. Zum anderen führen Vernunfterwägungen dahin, in einigen sozialen Bereichen Monopole einzurichten, und zwar zum Vorteil für deren Nutzer. – Und mit diesen Sachverhalten liegt das Problem auf dem Tisch: die Autokratie des Monopolismus. Die Autokratie des Monopolismus ist das politische Kernproblem. Diese These ist in meinem Buch „Die Bürgergesellschaft“ detailliert herausgearbeitet worden.
Um dieses Problem zu lösen, sind antimonopolistische Kräfte erforderlich. Die wird man nur bei den Monopolnutzern verorten können. Die Monopolnutzer sind gut beraten, Repräsentanten auszuwählen, die eine Gegenmacht zur Macht der Monopole bilden. So kann auch hier – wie beim Wettbewerb – das Prinzip „checks and balances“ Gestalt annehmen.
Seit Jahrzehnten kennen wir die Bedenken ehrenwerter Leute, die – mit Blick auf die Gefahren des Monopolismus – gegen die jetzige Form von Demokratie vorgebracht werden. Die Gefahren treten besonders dann ins Bewusstsein, wenn man diese Form mit einer zumeist unbemerkten, aber echten Demokratie vergleicht, der sogenannten „Demokratie des Marktes“ (s. mein Web-Beitrag „Die Vorteile der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl).
Als Ulrich Beck 1993 die Öffentlichkeit mit der These aufschreckte, die politischen Parteien seien nichts anderes als „Zombi-Institutionen“, die „historisch längst tot sind und doch nicht sterben können“, hat er uns nicht gesagt, warum sie nicht sterben können. Den Grund habe ich 1994 nachgeliefert (s. mein Web-Beitrag „Die Defizite der kandidatengebundenen Listenwahl“). Mit den Untersuchungsergebnissen, die ich damals (und später öfter) zur heute üblichen Wahlveröffentlicht habe, ist der Traum vom sachgerechten Funktionieren heutiger „Demokratie“ endgültig ausgeträumt. Denn jetzt ist begründet, warum diese „Demokratie“ von vorneherein nicht für ein solches Funktionieren geeignet war und das auch niemals sein konnte.
In dem oben genannten Beitrag hatte sich gezeigt: Die Bestallung der Repräsentanten durch die kandidatengebundene Listenwahl ist ein ziemlich absurdes Verfahren zur Verhinderung des Machtmissbrauchs der Monopole. Auf dem Fundament dieses Wahlsystems konnten sich die politischen Parteien herausbilden. Die Parteien haben sich kontinuierlich in Richtung Privatclub zum raffgierigen Aufsammeln von Wählerstimmen entwickelt. So musste es kommen, dass aus der Demokratie das wurde, was sie heute ist: eine bunt angestrichene Fassade: rot, grün, schwarz, gelb, blau, – lila fehlt noch(hier hat das politische System offensichtlich einen blinden Fleck).
Die kandidatengebundene Listenwahl bringt „Volksvertreter“ hervor, „deren Entscheidungen durch die Erfordernisse eines Schachers geleitet werden müssen… Auf Grund dieses Defekts in der Konstruktion unserer angeblich konstitutionellen Demokratien haben wir tatsächlich wieder jene unbeschränkte Macht, die die Whigs des 18. Jahrhunderts als ‚so wildes und monströses Ding‘ bezeichneten, dass ‚es natürlich ist, dagegen Front zu machen‘… In ihrer gegenwärtigen unbeschränkten Form hat Demokratie heutzutage weitgehend die Fähigkeit verloren, als Schutz gegen willkürliche Macht zu dienen. Sie hat aufgehört, ein Bollwerk der persönlichen Freiheit, eine Beschränkung des Missbrauchs der Regierungsgewalt zu sein – gerade das, was man von ihr erwartet hatte… Sie hat sich, ganz im Gegenteil, zur Hauptursache eines progressiven und sich beschleunigenden Anwachsens der Macht und des Gewichts der Verwaltungsmaschinerie entwickelt… Mit anderen Worten, wir haben unter dem falschen Namen der Demokratie eine Maschinerie geschaffen, in der… jedes Mitglied der Mehrheit zu vielen Bestechungen seine Zustimmung zu geben hat, um die Mehrheitsunterstützung für seine eigenen Sonderwünsche zu erlangen“ (Friedrich von Hayek, 1981 b).
Stellen wir der Demokratie die Despotie als negative Politvariante gegenüber, werden wir sagen dürfen: Mit der kandidatengebundenen Listenwahl zieht ein despotisches Moment in das politische Leben ein. Eine Machtelite kann aufgrund dieser Entstehungsregel „den denkbar vollkommensten Despotismus aufrichten“ (a. a. O.). Dass ein politischer Despotismus auch aus Wahlen hervorgehen kann, diese Erkenntnis datiert schon aus der Zeit des Thomas Jefferson.
Die kandidatengebundene Listenwahl ist das Eingangstor in eine „Demokratie“, die durch den Totalitarismus der Parteienherrschaft gekennzeichnet ist. „Wenn Hitler, dessen größte Sorge sicher nicht die Verbreitung der Demokratie war, als unvermuteter Agent derselben gelten kann, dann hat das seinen Grund darin, dass die Antidemokraten von heute genau dasjenige Demokratie nennen, was die eifrigen Anhänger der ‚liberalen Demokratie‘ von gestern Totalitarismus nannten – beide sprechen über dasselbe“ (Jacques Rancière, 2019).
In einer echten Demokratie kommt es darauf an, die Souveränität der sozialen Basis, also die Souveränität der Machterdulder zu bewahren. Die wird im Parteienstaat durch das dort übliche Machterteilungsritual eher behindert als befördert. Wollte man dem Demokratieideal wirklich Raum verschaffen, einem Ideal in der Art, wie es uns die „Demokratie des Marktes“ (s. o.) in aller Stille und Unaufdringlichkeit Tag für Tag vor Augen führt – der aus kandidatengebundenen Listenwahlen erwachsende Parlamentarismus wäre am Ende.
Die Entstehungsregel für das Parlament (die politische Wahl) ist so konzipiert, dass man Parteikoalitionen braucht, um politische Sachentscheidungen fällen zu können. Bei solchen Koalitionen sieht man den Anderen aber oft als Gegner, denn als Partner. Man positioniert sich, um auch künftig wieder gewählt zu werden, als eifriger Verfechter der Interessen seiner Klientel. Ständige Blockaden sind die Folge. Auch in den Stunden der Not, in denen man unpopuläre Entscheidungen fällen muss, wird nach diesem Profilneurosenprinzip gehandelt.
Die Gesellschaft ist heute allenthalben komplex und der Wille ihrer Bürger äußert sich in unterschiedlichster Weise. „Die Parteien können diese Komplexität und Volativität immer weniger in auch nur halbwegs konsistente und stabile Programme und Politiken übersetzen. Stattdessen müssen sie sich auf ein von Wahlstrategen, Kommunikationsexperten und Marketingspezialisten zusammengestelltes Menü lose zusammengehefteter Einzelpolitiken verlassen, von dem sie hoffen, dass es sich zum Zeitpunkt der Wahl möglichst gut verkaufen und – gegebenenfalls zusammen mit erhofften Koalitionspartnern – eine Stimmenmehrheit erzielen möge“. Aber „die traditionell vorgesehenen, institutionalisierten Formen der politischen Beteiligung entsprechen nicht mehr dem heutigen Selbstverständnis. Sie können die Erwartungen der Bürger nicht oder nur noch in sehr eingeschränktem Maße erfüllen und verlieren entsprechend an Bedeutung“ (Ingolfur Blühdorn, 2019).
Eine freie Bürgergesellschaft braucht Politik, und zwar als Schutzmaßnahme gegen die Autokratie des Monopolismus. Sie braucht Politik aber in ganz anderer Gestalt als wir sie heute haben. Alle Rechtfertigungsversuche dafür, dass in einer Gesellschaft so etwas wie „parlamentarische Demokratie“ existieren müsse, damit Politik angemessen etabliert werden kann, stehen im Widerspruch zu einer konsequent auf das freie Individuum ausgerichteten Denkungsart. Sie stehen im Widerspruch zu einer schlüssig-human organisierten gesellschaftlichen Lebensform.
Die Analyse der kandidatengebundenen Listenwahl zeigt einigermaßen unspektakulär und trocken das ideologische Aus der sogenannten „parlamentarischen Demokratie“. Das Aus ist ein absolutes und lässt sich nicht hinwegreden, ohne dass die Analyseergebnisse entkräftet werden. Auf dem Boden der kandidatengebundenen Listenwahl entsteht eine Parteienoligarchie, die sich selbst unzulässig „Demokratie“ nennt. Die kandidatengebundene Listenwahl ist die legalistische Verzierung dieser „Demokratie“. Kandidatengebundene Listenwahlen können gar nicht anders, als ein handfestes Legitimationsdefizit bezüglich der daraus hervorgehenden politischen Klasse bewirken. Die heutige, auf der Basis der kandidatengebundenen Listenwahl errichtete Demokratie ist eine Fassadendemokratie. Diese Wahrheit kann nur noch mühsam unter der Decke gehalten werden.
Die kandidatengebundene Listenwahl entspricht weder den Menschenrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit, noch dem Prinzip der Unmittelbarkeit (Dietrich Eckardt, a. a. O.). Sie ist keine Auswahl im natürlichen Sinne. Sie verunmöglicht das Eigentliche an der Wahl, nämlich das Entscheiden aufgrund einer umsichtigen Prüfung und Bewertung. Die den Bürgern einzig verbleibende Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, gerät zur bloßen Akklamation.
Wer den Standpunkt des politischen Primats der „sozialen Basis“ konsequent vertritt, muss Politik zur Sache dieser „Basis“ machen. Und diese „Basis“, das sind wir alle: das mit Freiheit begabte einzelne Ich und das in dieser Hinsicht dem Ich gleiche Du. Von der „Basis“ hat sich der Parlamentarismus längst entfernt. Wer es nicht glaubt, höre doch einmal genau hin, wenn wieder einmal die von den Parlamentariern gern gebrauchte Redewendung „Die Bürger draußen im Lande“ ertönt. Sie ist geradezu verräterisch. Hier kommt ganz unverhohlen zur Sprache, was Sache ist: Wir hier drinnen (offenbar im warmen) – und die da draußen (offenbar im kalten).
Unsere Parlamente kommen durch Wahlen zustande, die den Prinzipien eines offenen und freien Auswählens widersprechen. Die Wahlkabinen, in denen die Wahlzettel abgegeben werden, sind nichts anderes als „demokratische Bedürfnisanstalten“ (Andreas Tögel, 2016). Durch das Wählen in solchen „Kabinen“ kann keine Demokratie entstehen – mit Ausnahme der „parlamentarischen“. Immer mehr Bürger spüren das und meiden diese „Bedürfnisanstalten“.
Was auf der Basis der kandidatengebundenen Listenwahl allein emporwachsen kann, sindDemokratiefassaden.Die heute sogenannten Demokratien sind Mogelpackungen. Die Parlamentarische Demokratie ist keine Demokratie. Sie ist ein politisches System „mit demokratischer Fassade und despotischen Zügen“ (Gerard Radnitzky, 2006). Man kann sich nur wundern, mit welcher Chuzpe und mit welchem Fanatismus z. B. die politische Klasse der USA ihre Vorstellung von Demokratie, die auch Vorbild für die deutsche war, überall auf der Welt durchzubomben versucht.
Die kandidatengebundene Listenwahl kann eine Wahl im Sinne von „Auswahl des Besten“ nicht sein. Sie fördert die Tendenz zum Versteckspiel und katapultiert Pseudoprofessionalität an die Spitze. Sie kann sogar eine politische Geheimregie hervorbringen – selbst in einem voll entwickelten Kommunikationszeitalter wie dem unsrigen.
Den Repräsentanten in allen Ländern, in denen kandidatengebundene Listenwahlen stattfinden, fehlt die eigentliche, nämlich durch eine souveräne Auswahl zu erteilende Vertretungsvollmacht. Die über eine Listenwahl an die Macht gelangten „Volksvertreter“ haben daher ein massives Legitimationsproblem. Das Problem wird zusätzlich brisant dadurch, dass die Parlamentarier über die Parteiapparate mit dem Exekutivmanagement des Staatsmonopolismus eng verbandelt sind.
„Ist bereits die demokratische Legitimation des Parlaments – mangels wirklicher Volkswahl der Abgeordneten – erschüttert, so steht die Legitimation der vom Parlament gewählten Amtsträger, die in Wahrheit vorher von den Parteien bestimmt werden, erst recht bloß auf dem Papier. Das Zaubermittel, dennoch Legitimation vorzugeben, ist die sogenannte ununterbrochene Legitimationskette, die vom Volke bis zu den Amtsträgern reichen soll. Angesichts der völligen Einflusslosigkeit des Volkes und der alleinigen Bestimmung durch die Parteien erweist sie sich aber vollends als wirklichkeitsfremde Fiktion“ (Hans Herbert von Arnim, 2017).
Die vielbeschworene „Souveränität des Volkes“ ist ein schlechter Witz. Die Behauptung, das Parlament repräsentiere das Volk, hört sich an wie blanker Hohn. In einem Parteienstaat sind allein die Führungskader der Parteien souverän. Sie haben die alte Obrigkeit ersetzt und sind nun selbst die Majestäten. Die Auffassung Abraham Lincolns, Demokratie sei die Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk, trifft auf die heutigen „Demokratien“ nicht zu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, in denen mit einer kandidatengebundenen Listenwahl gewählt wird. In Deutschland kommt noch hinzu, dass man die Mehrheitsregel mit der sog. Verhältniswahl verbunden hat. Das verschafft den Parteifunktionären einen weiteren Vorteil gegenüber anderen Personen, die sich eventuell auch gern zur Wahl stellen würden.
Außerdem: Schon aus ökonomischer Sicht müsste in vielen heutigen Gesellschaften das Prädikat „demokratisch“ im Sinne von „Volksherrschaft“ in Frage gestellt werden. Es übersteigt jede Vorstellungskraft, dass ein Volk ohne Murren akzeptieren soll, dass – alle Staatseinnahmen zusammengenommen – die Hälfte (und oft mehr) der individuellen Eigentumszuwächse der bestimmenden Macht irgendwelcher privilegierter Mitbürger obliegt und ein Großteil davon direkt in deren Taschen verschwindet.
Das Verhältnis des real existierenden Parteienstaats zur Freiheit ist problembeladen und dem öffentlichen Diskurs vielfach entglitten. Die Intelligenzia, sofern sie die parlamentarische Demokratie in Form eines Parteienstaats befürwortet, ist angesichts der offensichtlichen Missstände bei ihrem Wunschgebilde mit ihrem Latein am Ende. Auf die wichtigste politische Frage – Ausuferung der Autokratie der (auch staatlichen!) Monopole – hat sie keine Antworten mehr. Der angeblich große Wert der „parlamentarische Demokratie“ ist etwas, das man uns anhand dummer Schulbücher eingetrichtert hat.
So ist auch der Zusammenhang von Freiheit, Menschenrecht und Demokratie für Viele nicht oder kaum noch sichtbar. Die Menschen sind hilflos, wenn sie mit Thesen konfrontiert werden wie die folgenden: „Persönliche Freiheit verlangt nicht Demokratie, sondern einen freiheitssichernden Charakter der Verhaltensregeln“ (Erich Hoppmann (1995). Hans-Hermann Hoppe verschärft diese These noch: „Demokratie hat… nichts mit Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit u. ä. zu tun“ (2012). Er diagnostiziert beim Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie einen „zivilisatorischen Rückschritt“ (2004, 2005). Offensichtlich hat er Recht. Zumindest für Deutschland und Österreich trifft dies zu, wenn man etwa das 18. und 19. mit dem 20. und 21. Jahrhundert vergleicht. Und wenn man z. B. die heutige öffentliche Diffamierung und Ausgrenzung von Auffassungen und Meinungen ins Auge fasst, die der Obrigkeit und ihrer medialen Kamarilla nicht genehm sind. Im deutschen Kaiserreich durfte sogar (nach kurzer Unterbrechung) Max Stirner völlig unzensiert erscheinen.
„Auf demokratischem Wege erzielte [gemeint sind mehrheitlich zustande gekommene] Entscheidungen tendieren nicht weniger dazu, im Ergebnis individuelle Optionen zu dominieren und die Macht der Kollektiventschei-dungen auszudehnen, als die ‘Willkür’ des Diktators“ (Antony de Jasay, 1995; s. auch Christoph Braunschweig, 2013). Unter Bezugnahme auf Benjamin Constant fragt deshalb Isaiah Berlin (2006): „Warum sich jemand darum scheren solle, ob er von einer Volksregierung, von einem Monarchen oder von einer repressiven Gesetzgebung erdrückt wird.“ – „Jene Individuen und jene Minderheiten, die durch Mehrheitsentscheide fremdbestimmt werden, werden in ihrer Selbstbestimmung in gleicher Weise beschnitten wie durch autokratische Machthaber“ (Robert Nef; 2012).
Die radikalen Kritiker der Demokratie erblicken nicht nur in der parlamentarischen Demokratie, sondern in der Demokratie überhaupt eine defekte Sozialordnung. Man sollte, so die vereinzelt vertretene Auffassung, Demokratie am besten ganz abschaffen (z. B. Hans-Hermann Hoppe, 2004 und 2012). Friedrich August von Hayek hält dagegen: „Es scheint mir, dass die Desillusionierung, die mancher spürt, nicht auf einem Fehlschlagen der Demokratie als solcher beruht, sondern darauf, dass wir damit falsch umgegangen sind. Gerade weil es mir am Herzen liegt, das wahre Ideal davor zu bewahren, in Misskredit zu geraten, versuche ich herauszufinden, welche Fehler wir gemacht haben und wie wir die unerwünschten Konsequenzen des demokratischen Verfahrens verhindern können“ (1981 b). Die Freiheitsidee und die Idee einer echten Demokratie sind zwei voneinander untrennbare Sujets. Die „Demokratie des Marktes“ liefert dafür das eindrucksvolle Beispiel. Es lohnt sich, hier einmal genauer hinzuschauen (s. mein Web- Beitrag „Die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl“).
Es spricht nicht gerade für die Intelligenz der Fürsprecher des Parlamentarismus, wenn sie die „Volksvertreter“ am liebsten im Hamsterrad der Gesetzesproduktion beschäftigt sehen. Sie sollten erkennen, dass mit der (inzwischen regelrecht galoppierenden) Gesetzes- und Verordnungsinflation ein brisantes Potential für das Wegfegen der Parlamente entsteht. Die Bürger werden immer wütender angesichts der Tatsache, dass die Parlamentarier, statt sich um eine effektive Monopolkontrolle bei der Exekutive zu bekümmern und damit Wucher und Willkür zu verhindern, an einem immer enger werdenden Vorschriftenkäfig basteln.
Schon nur mit der bloßen Existenz der kandidatengebundenen Listenwahl wurde das Demokratie-Ideal seelenlos. Dieses Faktum will den gesellschaftlichen „Eliten“. die in den öffentlichen Medien gewöhnlich den Ton angeben, nicht in den Kopf. Man hat vergessen, einmal grundsätzlich zu fragen, ob das Gebilde „kandidatengebundene Listenwahl“ überhaupt dazu geeignet ist, humane Gesellschaftlichkeit hervorzubringen. Die Presse, die eigentlich diese Frage kritisch angehen sollte, hat Antworten dazu aus ihren Feuilletons verbannt. Der professionelle Intellektualismus ist zum Steigbügelhalter real existierender Antidemokratie geworden.
Was hier Fassadendemokratie genannt wird, bezeichnet Ingolfur Blühdorn, der die gesellschaftlichen Verhältnisse in der sogenannten „Postdemokratie“ erforscht, mit gutem Grund „simultative Demokratie“. „Die simulative Demokratie (reproduziert) den Glauben an die Demokratie und stabilisiert genau dadurch die angeschlagene gesellschaftliche Ordnung“. Eine solche Form der Demokratie wird heutzutage offenbar dringend benötigt. Denn sie ist „die Antwort auf die Frage: Wie kann man diesen Verlust [des klassisch-liberalen Demokratieideals] verschleiern, oder besser: sublimieren, so dass Demokratie in voller Blüte erscheint?“ (2019)
Die Missgestalt der politischen Wahl hat Einfluss auf die Zusammensetzung der Parlamente. „Der Bundestag entspricht in seiner personellen Zusammensetzung keineswegs der Struktur des von ihm repräsentierten Volkes… Je linker sich eine politische Partei versteht, umso mehr wird sie im Deutschen Bundestag von Angehörigen des öffentlichen Dienstes vertreten… Sie sind und sie bleiben Beamte im parlamentarischen Gewand,“ so der Sozialdemokrat Hans Apel (1991). Aufgrund ihres Beamtenstatus haben sie sogar noch mehr Privilegien als ihre Abgeordnetenkollegen, die nicht durch den öffentlichen Dienst abgesichert sind.
Zu den Revisionsversuchen des heute üblichen Repräsentantenstatus meint Blühdorn , „dass alle Versuche, die demokratische Repräsentation im traditionellen Verständnis… zu verbessern, völlig aussichtslos und zudem normativ fragwürdig sind. Klar ist aber auch, dass Repräsentation… keineswegs irrelevant wird. Es ist daher weiter zu erkunden, wie sich ihre Bedeutung neu bestimmt“ (a. a. O.). Die vielen Klagen über die Defizite heutiger Demokratien signalisieren scheinbar große Feindschaft gegen alles Demokratische. Das ist aber nur der Anschein. In der „Postdemokratie“ besteht nämlich der Anspruch auf Demokratie weiterhin, nur hat sich die Sensibilität im Hinblick auf das wahrhaft Demokratische vergrößert.
Auch Colin Crouch macht sich Gedanken darüber, wie man die „Postdemokratie“ rückgängig machen könnte – zugunsten einer wiedererstarkten Demokratie („Vitalisierung der Demokratie“; 2020). In völliger Unkenntnis realer Gegebenheiten und der sie verursachenden Entstehungsgründe setzt er weiter auf die politischen Parteien. Selbst Leute, welche, wie z. B. die Autorin Birgit Kelle, der heutigen Gesellschaft äußerst kritisch gegenüberstehen, glauben feste daran, dass wir mit der „parlamentarischen Demokratie“ in einer Gesellschaftsform leben, die wir auf jeden Fall verteidigen sollten (2016).
Zitierte Literatur:
Apel, Hans, Die deformierte Demokratie – Parteienherrschaft in Deutschland, Stuttgart 1991
Arnim, Hans Herbert von, Die Hebel der Macht und wer sie bedient – Parteienherrschaft statt Volkssouveränität, München 2017
Beck, Ulrich, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993
Berlin, Isaiah, Freiheit – vier Versuche, Frankfurt/Main, 2006
Blühdorn, Ingolfur, Simulative Demokratie – Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Frankfurt/M. 2019
Braunschweig, Christoph, Wohlfahrtsstaat – leb wohl! – Der wirtschaftliche und moralische Verfall des Wohlfahrtsstaates, Berlin 2013
Crouch, Colin, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2020
Eckardt, Dietrich, Die kandidatengebundene Listenwahl in: Zeitschr. f. Direkte Demokratie 25/1994
Eckardt, Dietrich, Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft, Berlin 2021
Hayek, Friedrich August von, Die Verfassung einer Gesellschaft freier Men-
schen, Landsberg/Lech 1981
Hoppe, Hans-Hermann, Demokratie – Der Gott, der keiner ist, Leipzig 2004
Hoppe, Hans-Hermann, Eigentum, Anarchie und Staat, Studien zur Theorie des Kapitalismus, Leipzig 2005
Hoppe, Hans-Hermann, Der Wettbewerb der Gauner – Über das Unwesen der Demokratie und den Ausweg in die Privatrechtsgesellschaft, Berlin 2012
Hoppmann, Erich, Freiheit und Ordnung in der Demokratie in: Roland Baader (Hrsg.), Die Enkel des Perikles, Gräfelfing 1995
Jasay, Antony de, Liberalismus neu gefasst – Für eine entpolitisierte Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995
Kelle, Birgit, Betreut statt regiert, in: Infantilismus – Der Nanny-Staat und seine Kinder, Hrsg. Christian Günther, Werner Reichel, o. O. 2016
Nef, Robert, Direkte Demokratie und Liberalismus – Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip, Berlin 2012
Radnitzky, Gerard, Das verdammte 20. Jahrhundert, Hildesheim 2006
Rancière, Jacques, Der Hass der Demokratie, Berlin 2019
Tögel, Andreas, Der Wohlfahrtsstaat leistet ganze Arbeit, in: Christian Günther/Werner Reichel, Infantilismus – Der Nan-ny-Staat und seine Kinder, o. O. 2016