Das Ich als Teil einer freien Rechtsgemeinschaft

Dietrich Eckardt (www.dietrich-eckardt.com; diteck@t-online.de)

Im Alltag bildet jedes Ich zunächst einmal ein ganz eigenes Rechts- und Normenverständnis aus. Es schöpft dieses vermeintlich aus den Tiefen seiner Seele, als wäre es der Erfinder einer besonders rühmlichen Moral. In Wahrheit richtet es sich nach seinen persönlichen Vorlieben und selbstgewirkten Vorstellungen oder nach seinen von Anderen übernommenen Denkgewohnheiten. Je zeitgeistgemäßer sich die Meinungen über Rechtsangelegenheiten im individuellen Bildungsprozess verfestigt haben, mit umso kritikloserer Inbrunst äußern sie sich. Wie sie auch zustande kommen mögen, ihr Zentrum haben sie stets im Ich.

Der viel beachtete Jurist und einer der bedeutendsten Vertreter seiner Zunft, Hans Kelsen, behauptet, „dass das Individuum… nur als unselbständiger Bestandteil der Gemeinschaft existent ist“ (Nachdruck 2008). Ähnlich sein ideologischer Gegenspieler Carl Schmitt (Nachdruck 2006). Auf die Unmöglichkeit, eine solche These erkenntnistheoretisch zu begründen, habe ich in den Anhängen 1 und 5 meiner Bildungsschrift (2022) hingewiesen. Ich vertrete eine andere Position. Aus Gründen, die am angegebenen Ort dargelegt sind, sollte nicht „die“ Gesellschaft, sondern das erkennbar handelnde Ich im Fokus aller Untersuchung zur Gesellschaftlichkeit des Menschen stehen. Das gilt auch für die Untersuchung der Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Rechtsgemeinschaft.

Das Hineinwachsen des Ich in seine Welt und in die Gesellschaft hatte ich in Abschnitt A Lebensentfaltung genannt. Die Lebensentfaltung des Menschen hat eine rechtliche Komponente:  Das Ich ist die Mitte eines vertraglich fixierten Normengeflechts, das es geerbt oder selbst geknüpft hat und sitzt darin wie eine Spinne im Netz. Es baut nicht nur in ökonomischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht ein eng verwobenes Netz von mitmenschlichen Beziehungen auf und vereinigt sich auf diese Weise mit einem Du zu einem Wir.

Rechtlich existiert das Ich zwar inmitten der Anderen, aber in der Rolle eines eigenständigen und autonomen Subjekts. So ist es nicht nur in seiner Rolle als Leistungsträger (s. Dietrich Eckardt, 2022 a), sondern auch in seiner Rolle als Verantwortungsträger immer eng mit den Anderen verbunden.

In einer schlüssig-human organisierten Wirtschaftsgemeinschaft werde ich, in meiner Rolle als Güter- und Leistungslieferant, von den Anderen gezwungen, mich altruistisch zu verhalten. Sie signalisieren mir ihre Bedürfnisse, die ich mit meinen Gütern und Dienstleistungen befriedigen soll. Wenn ich am Markt bestehen will, muss ich mich – als Ego-Ist – nicht selbst zum Altruismus bekehren. Der Markt zwingt meinem Ego das Alter-Ego von sich aus auf – jenseits aller Scheidung von Moral und Unmoral. Lässt sich Entsprechendes über die interindividuellen Abläufe beim Rechtswesen sagen? – Ja, und zwar beim Zustandekommen eines Kompromisses beim Vertrag. Der Kompromiss zwingt mich, das Alter-Ego in mein Ego aufzunehmen. Ohne Kompromiss kein Vertrag. Insofern verlangt jeder Vertragsabschluss mir eine altruistische Einstellung ab. Darauf beruht die sozialintegrative Kraft der Verträge.

Die Egoismus-Altruismus-Problematik in Bezug auf die Gesellschaftlichkeit des Menschen ist also auf zwei Ebenen zu verorten:  einerseits auf der Ebene der materiellen Bedürfnisbefriedigung, also physisch, andererseits auf rein geistiger Ebene, also meta-physisch. Diese beiden Ebenen kulminieren im Ich. Beim Ich hatten wir gefunden, dass es zwar als Einheit, als solches aber dual existiert (Dietrich Eckardt, 2022).

Verträge fordern dem Ich ein bestimmtes Verhalten ab. Sie legen Verhaltensgebote fest. Diese Gebote – in Form von Pflichtenaktiviert – sind erforderlich, damit ein anderes Ich Rechte genießen kann. Auch mit Verhaltensverboten wird ihmeine bestimmte Haltung abverlangt, allerdings eine, die sich von den Geboten prinzipiell unterscheidet:  Verbote fördern kein positives, sondern verhindern negatives Handeln.

Sofern ich die Vereinbarungen und Verträge, die ich mit Anderen getroffen bzw. abgeschlossen habe, nicht freiwillig einhalte, werde ich dazu gezwungen. Das geschieht nicht gewaltlos, wie auf dem Markt, sondern durch eine mit Gewaltpotential ausgestattete Macht (Dietrich Eckardt, 2022 b). Die anonyme Macht des Marktes ist beim Recht durch eine namhafte Macht ersetzt:  die öffentlich präsente Exekutive. Dem Zwang der Exekutive kann ich nur entgehen, wenn ich das Alter-Ego freiwillig in mein Ego einbinde. Man sagt dann:  Ich verhalte mich fair. Die Fairness macht mich erst eigentlich zum freien Rechtssubjekt, wo ich sonst lediglich Rechtsobjekt wäre.

Frei ist, wer seine positiven Handlungsnormen (Gebote) selbst setzt – in Absprache mit seinen Mitmenschen. Frei ist auch, wer die eigentumsschützenden Handlungsnormen (Verbote) wie Selbstverständlichkeiten anerkennt. Dann sind sowohl die Gebote als auch die Verbote Erzeugnisse einer Selbstgesetzgebung (a. a. O.).

In Knechtschaft lebe ich, wenn ich mir meine Handlungsnormen nicht selbst setzten darf, sondern sie von einer Fremdinstanz diktiert bekomme. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Instanz eine Majestät von Gottes Gnaden ist oder eine, die durch Mehrheitsbeschluss zustande kommt.

Eine neuartige und auf’s erste fremdartig erscheinende Einrichtung der freien Rechtsgemeinschaft ist das von Murray Rothbard angeregte, speziell auf Rechtsverstöße ausgerichtete Schadensersatzwesen. Hier sind die potentiellen Schädiger, und das sind alle Rechtsgenossen einer Gesellschaft, zahlende Mitglieder. Das Schadensersatzwesen kommt – in Gestalt einer Assekuranz – für den zeitnahen Ausgleich aller menschenverursachten Schäden auf (a. a. O.). Die Einrichtung ist geschaffen aufgrund der andersartigen Vorstellung von Schadensvergeltung, welche freisinnige Rechtsgenossen haben. Im Mittelpunkt steht das Schadensopfer mit seinem Bedürfnis nach ungeschmälerter Lebensentfaltung. Ihm wird daher der Schaden sofort und ohne Ansehung der näheren Umstände ersetzt werden müssen. Andernfalls würde seine Existenz durch unrechtmäßiges Verhalten Einbußen erleiden.

Die Idee des Sofortausgleichs von Schäden basiert auf dem Mitgefühl und der Achtung der Rechtssubjekte füreinander. Sie dulden nicht, dass jemand die Ressourcen seiner Lebensentfaltung über unmäßig lange Zeit entbehren muss, nur weil es in der Gesellschaft immer wieder Zwist über Rechtsverhältnisse gibt. Hinter dieser Auffassung steht das Wissen um die Endlichkeit menschlichen Lebens und das Bestreben, dieses möglichst lange unbeschadet zu erhalten.

Die juridische Subjekt-Objekt-Problematik spielt vor allem im Zusammenhang mit der Vergeltung von Rechtsbrüchen eine Rolle. Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder das delinquente Subjekt macht sich selbst zum Objekt, indem es sich z. B. mit seiner Entscheidung zur kriminellen Handlung aus der Rechtsgemeinschaft ausklinkt. Dann ist es nur noch Aufgabe der Gemeinschaft, diesen Akt zu bestätigen und entsprechend zu reagieren:  durch Einfordern der Vergeltung in Form einer Wiedergutmachung. Oder das delinquente Subjekt wird von anderen (z. B. von einem Richter) zum Objekt gemacht. Dann bürdet man ihm zwecks Vergeltung eine Strafe auf – in Form eines Gefängnisaufenthalts (a. a. O.).

Eine Bestrafung als Sühneverfahren bei Verbrechen gibt es in schlüssig-human organisierten Rechtsgemeinschaften nicht. An deren Stelle tritt die Wiedergutmachung – manchmal in Verbindung mit einer Ächtung. Die Ächtung bewirkt den Ausschluss von Rechtsbrechern aus der Gesellschaft. Die Gesellschaft verbannt einen Verbrecher nicht aus ihrem Lebenskreis, sondern nur aus ihrem Rechtskreis. Sie belässt ihn in ihrer Mitte, damit er (unter manchmal harten Bedingungen; siehe a. a. O.) die Wiedergutmachung des von ihm angerichteten Schadens leisten kann.

Das Ich als Subjekt einer freien Rechtsgemeinschaft lebt also innerhalb zweier ordnungsstiftender Komponenten:  Dem Vertrag, in dem ihm der Rahmen des Gebotenen vorgegeben ist, und einem exekutiven Funktionssystem, welches das Verbotene unterdrückt. Beide Komponenten kulminieren in dem Satz:  Eigentum ist sakrosankt, insbesondere das Eigentum des Ich an seinem Leib. Dieser Satz beschreibt den Kern eines wahrhaft entwickelten Rechtswesens.

Die Rechtsnormen haben Auswirkungen auf das individuelle Handeln und auf das individuelle Beurteilen von Handlungen. Das Handeln oder dessen Beurteilung kann gerecht oder ungerecht sein. Als gerecht bezeichnen wir (spätestens seit Aristoteles) ein Handeln/Urteilen, wenn es sich an das Recht hält bzw. Rechtsverstöße meidet. Das dabei in Rede stehende Recht ist in einer freien Rechtsgemeinschaft immer das von den einzelnen Rechtsgenossen selbst gesetzte Recht.

Ist ein Verhalten oder dessen Beurteilung dem Recht gemäß, sprechen wir von Gerechtigkeit. Steht eine Handlung oder ein Urteil dem Recht entgegen, sprechen wir von Ungerechtigkeit.Die Endsilbe „keit“ deutet an:  Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind keine abstrakten Gebilde, sondern ganz konkrete Eigenschaften von real existierenden Menschen. Außerdem sind sie Eigenschaften, denen man einen moralischen Aspekt beizulegen pflegt.

„Genau genommen kann nur menschliches Verhalten gerecht oder ungerecht genannt werden… Den Ausdruck ‚gerecht‘ auf andere Umstände anzuwenden als auf menschliche Handlungen oder die Regeln, die sie leiten, ist ein Kategorienfehler“ (Friedrich August von Hayek, 1981a; s. auch Hans Kelsen, 2008). Gerechtigkeit verlangt nichts anderes als rechtskonformes Verhalten, ein Verhalten also, das sich an bestehendes Recht hält. Gerechtigkeit meint also Einklang mit dem Recht. Der Begriff ergibt außerhalb dieses Sachzusammenhangs keinen Sinn, obwohl man immer wieder versucht, ihn auf andere Sachzusammenhänge auszudehnen (Dietrich Eckardt, 2022 b).

Gerechtigkeit soll dem Individuum zu dem verhelfen, das ihm aufgrund der Gewährung durch andere zusteht. Von einer über allem stehenden Idee („Gerechtigkeitsidee“; Gustav Radbruch, 1970; Ernst von Hippel, 1955) kann nicht die Rede sein. „Gerechtigkeit ist keine… überzeitliche Instanz, die eine… Norm oder ihre Maßstäbe bereithält und die Jahrtausende danach bewertet.“ (Thomas Fischer, 2018). Welche Kopfstände die Philosophie der Gerechtigkeit machen muss, um Gerechtigkeit in einer idealen Sphäre als absolute Größe festzumachen und sich nicht damit zu begnügen, dass es sich lediglich um eine Eigenschaft von Menschen handelt, darüber lese man nach in dem Sammelband von Christoph Horn und Noco Scarano (2002).

Inwieweit ein Verhalten gerecht ist, sagt uns unsere reflektierende Urteilskraft. Die Urteilskraft – z. B. die eines Richters – misst faktisches Verhalten am vereinbarten Verhalten, also an einer gesetzten Handlungsnorm. Die Normen für die Beurteilung sind insofern stets die von den Rechtssubjekten selbst geschaffenen Gesetze (Dietrich Eckardt, 2022 b).

Gerechtigkeit ist im Kern ein negativer Begriff, wie Friedrich von Hayek richtig erkennt (1981 a und1981 b), denn sie soll dazu befähigen, das freie Rechtsleben nicht zu verletzen, nicht zu manipulieren, nicht zu schädigen. Der Begriff zielt auf Vermeidung unrechten Verhaltens und unrechten Beurteilens. Und gerade wegen dieser Negativität ermöglicht Gerechtigkeit Positivität.

Der verlässlichste Garant für ein rechtmäßiges menschliches Verhalten ist eine mit Gewalt ausgestattete Exekutive. Die sollte aber nicht ausdrücklich und überall den Alltag der Rechtssubjekte bestimmen. Idealerweise ist dieser Alltag bestimmt durch still wirkendes präjuridisches Verhalten:  „Tragfähige Vertrauensnetze… bilden… ein gemeinsames… Wurzelwerk, das auf der Idee der Vertragstreue und der persönlichen Verantwortung beruht. Das Einstehen für die Folgen des persönlichen Handelns (also die Haftung) ermöglicht jene gemeinsam produzierte Verlässlichkeit, welche die eigene Freiheit mit der Freiheit der Mitmenschen verknüpft“ (Robert Nef, 1995).

Zitierte Literatur:

Eckardt, Dietrich, Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum heutigen Bildungsbetrieb, Berlin 2022

Eckardt, Dietrich, Der Markt und seine Verzerrung, Berlin 2022 a

Eckardt, Dietrich, Das Recht und seine Verfälschung, Berlin 2022 b

Fischer, Thomas, Über das Strafen, Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft, München 2018

Hayek, Friedrich August von, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg/Lech 1981 a

Hayek, Friedrich August von: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, Landsberg/Lech 1981 b

Hippel, Ernst von, Einführung in die Rechtstheorie, Münster 1955

Horn, Christoph und Scarano, Nico (Hrsg.), Philosophie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2002

Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, 1934, Hrsg. Matthias Jestaedt, Nachdruck Tübingen 2008

Nef, Robert, Marktwirtschaft als ‘Weg aus der Knechtschaft’ in: Liberales Institut Zürich (Hrsg.), Reflexion 34, Zürich 1995

Radbruch, Gustav, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1970

Schmitt, Carl, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Nachdruck Berlin 2006