Die Defizite der kandidatengebundenen Listenwahl

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de, www.dietrich-eckardt.com)

Die Parlamentarier weltweit rechtfertigen die Legitimität ihrer Position und ihrer Aktivitäten damit, dass sie „vom Volke gewählt“ seien. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, ob die heute übliche Form des politischen Wählens ein echter Wahlvorgang überhaupt ist und ob die daraus erwachsende sog. „Parlamentarische Demokratie“ die Verkörperung dessen ist, was man sich unter einer echten Demokratie vorstellen sollte. Um das herauszufinden, ist es nützlich, den Vorgang des derzeitigen politischen Wählens d. h. die Bestallung der Parlamentarier, genauer zu untersuchen.

Vorerst sei schon einmal gesagt:  Ob man die praktizierten Wahlverfahren eher unter den Begriff Mehrheitswahl oder unter den Begriff Verhältniswahl subsumiert, ist angesichts der Tatsache, dass Wahlen in beiden Formen kandidatengebunden sind, von untergeordneter Bedeutung. Denn in dem einen Fall sind es Personen, die kandidieren, in dem anderen Fall politische Parteien. Die heute üblichen Wahlen sind allemal kandidatengebundene Listenwahlen. Zwischen einer kandidatengebundenen Wahl und einer kandidatenfreien Wahl gibt es einen eheblichen Unterschied. Um das zu sehen, ist als erstes zu prüfen, ob eine kandidatengebundene Listenwahl demokratische Strukturen, die ja allein menschenrechtsgemäß wären, aufgrund ihres Aufbaus überhaupt hervorbringen kann.Diese Prüfung möchte ich anhand des deutschen Bundeswahlgesetzes – stellvertretend für viele anderen weltweit – vornehmen.

Der heutige Staat ist durchgängig „Parteienstaat“ (Gerhard Leibholz, 1964,1998). Die kandidatengebundene Listenwahl ist dadurch gekennzeichnet, dass die Personen, die sich zur Wahl stellen, fast vollständig von politischen Parteien – als deren Wahl-Kandidaten – herausgesucht und bestimmt werden. Die Form, in der man in Parteienstaaten wählt, ist schon mancherorts in Frage gestellt worden. Die dort übliche Repräsentantenwahl sei gar keine echte Wahl, heißt es, sie sei es nur zum Schein. Mit einem echten Auswählen, so wie wir das von einem durch Wettbewerb bestimmten Markt kennen, hätten politische Wahlen nichts zu tun.

Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Kenneth Arrow hatte schon 1951 berechnet, dass es ein Wahlverfahren im Sinne eines durch die wählenden Individuen selbst vorgenommenen, also wirklich demokratischen Auswählens auf der Basis einer Kandidatenwahl nicht geben kann. Auch andere Theoretiker diagnostizieren bei den üblichen Wahlprozeduren (Auswahl aus einer Kandidatenliste) erhebliche Mängel. In seinem Buch „Die verflixte Mathematik der Demokratie“, in dem er die Struktur der bekanntesten Wahlmodelle untersucht, kommt George Szpiro zu dem ernüchternden Ergebnis:  „Alle Wahlmethoden… haben ihre Unzulänglichkeiten“. Nun gibt es aber z. B. bei der kandidatengebundenen Listenwahl eine Unzulänglichkeit, die alle anderen übertrifft.

Im Anhang 3 meines Werkes „Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum heutigen Bildungsbetrieb“ hatte ich das Menschenrechts-axiom herausgearbeitet:  Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung. In diesem Axiom sind die drei Prinzipien Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit enthalten. Von einer wahrhaft menschenrechtsgemäßen Wahl darf erwartet werden, dass sie für alle Wahlberechtigten frei und gleich ist. So sind die Schöpfer politischer Wahlordnungen bemüht, diese drei Prinzipien in ihren Kreationen besonders stark zu betonen.

Die politische Wahl in Form einer kandidatengebundenen Listenwahl ist von Direktiven bestimmt, die sich, wie ich bereits früher (1994) am Beispiel Deutschland gezeigt hatte, durch folgende Merkmale kennzeichnen lassen:

  1. Vor der Wahl werden Kandidaten aufgestellt (§§ 21 und 27 Bundeswahlgesetz). Die Wähler erhalten Listen, anhand derer sie die dort aufgeführten Kandidaten (oder Kandidatengruppen, denn auch die politischen Parteien fungieren als Kandidaten) durch Ankreuzen auswählen sollen. Diese Kandidaten sind keine Repräsentanten der Wählergruppen an der „Basis“, sondern Repräsentanten politischer Parteien. Diese Parteien haben quasi das Monopol der Kandidatenauswahl (Hans Apel, 1991). Selbst bei den parteiinternen Mitgliederabstimmungen stehen oft vorher die Kandidaten zur Auswahl schon fest. An der Auswahl der Kandidaten ist die Wählerschaft als Ganze nicht beteiligt. Zwar ist der Allgemeinheit der Zugang zur Wahl nicht verwehrt. Die Auswahl derjenigen jedoch, die auf den Wahllisten als Kandidaten aufgeführt sind, vollzieht sich unter Ausschluss der Wählerbasis. Das bedeutet:  keine echte Allgemeinheit der Wahl.
  2. Die Stimmen der Kandidaten-Auswähler zählen mehr, sind also privilegierter als die der übrigen Wähler. Außerdem zählt ihre Stimme noch ein zweites Mal, nämlich bei der eigentlichen Wahl. Dabei entsteht die Frage:  Was ist denn nun die eigentliche Wahl? Ist es die Kandidatenauswahl für eine Wahlliste oder die Auswahl der Kandidaten aus einer Wahlliste? Unerachtet der Antwort auf diese Frage:  die kandidatengebundene Listenwahl ist eine verkappte Zweiklassenwahl. Es finden hier unterschiedliche Wahlgänge voneinander getrennter Wählergruppen statt. Das bedeutet:  Ungleichheit der Wahl.
  3. Die vorgefertigten Kandidatenlisten werden den Wählern als Stimmzettel ausgereicht (§ 30 und §§ 34 ff Bundeswahlgesetz). Nur im Rahmen der auf diesen Zetteln aufgeführten Personen bzw. Parteien können sie eine Entscheidung treffen. So ist der Wähler für bestimmte Personengruppen nichts weiter als ein „nützlicher Idiot an der Wahlurne“ (Hermann Scheer, 1979). Außerdem gibt es feste „Wahlperioden“ mit vorherbestimmten Wahlterminen (Art. 39/1 GG in Verbindung mit § 1 Bundeswahlgesetz). Einmal Gewählte können sich für eine bestimmte Zeit auf ihren Posten einrichten. Ihre Abwahl kann erst nach Ablauf einer „Wahlperiode“ erfolgen. Das bedeutet:  keine wirkliche Freiheit der Wahl.

Dieses Analyseergebnis muss eine herbe Enttäuschung sein für all diejenigen, die die kandidatengebundene Listenwahl für einen Entscheidungsvorgang halten, der dem Menschenrecht und seinen Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit entspricht. Das tut sie nicht. Wie in anderen politischen Bereichen erscheinen auch hier die drei Menschenrechtsprinzipien bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Man kann es in Ordnung finden, per kandidatengebundener Listenwahl zu wählen. Man muss dann aber zugeben, dass man damit das Menschenrecht grob missachtet.

Der Satz „In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus“ (Art. 20/2 GG) wird so lange eine hohle Phrase – die Souveränitätsphrase – bleiben, bis gesichert ist, dass jedes mündige Mitglied der Gesellschaft (Allgemeinheit) unterschiedslos (Gleichheit) demjenigen über sich Macht verleihen kann, den es aus der Gesamtheit seiner Mitgesellschafter autonom (Freiheit) ausgesucht hat. Insofern darf es keine vorher von anderen bestimmten Kandidaten für die politische Auswahl geben.

In den politischen Parteien bestimmen die oberen Funktionäre und die „Kungelkreise“ bei den Mitgliederversammlungen die zu wählenden Kandidaten. Die einfachen Parteimitglieder spielen bei dieser Aufstellung, wenn überhaupt, dann nur eine untergeordnete Rolle. „Längst haben sie sich damit abgefunden, Zuschauer in eigener Sache zu sein“ (Wolfgang Sofsky, 2019). Auf den wahlvorbereitenden parteiinternen Delegiertentreffen stehen die Kandidaten in der Regel vorher schon fest. „Deshalb wird es ja auch stets als eine kleine Sensation vermerkt, wenn es auf einer… Delegiertenversammlung zu personellen Beschlüssen kommt, die von den Empfehlungen des jeweiligen Parteivorstandes abweichen. Damit wird sichtbar, dass das normale Parteimitglied bestenfalls einen formalen Einfluss auf die Zusammensetzung der Landesliste seiner Partei hat“ (Hans Apel, 1991).

Weil eine Wahl stets allgemein, frei und gleich sein sollte, wird es denjenigen, die noch einen Rest Rechtsinstinkts in sich tragen, ein Dorn im Auge sein, dass vor der offiziellen Wahl schon eine andere (die eigentliche?) Wahl stattfindet. Bei der werden die Kandidaten ausgewählt, die dann allein noch zur Wahl stehen. Bei der Durchsicht der Kandidatenliste fallen den Wählern vielleicht Leute ein, die die vakanten Funktionen besser ausüben könnten. Jedenfalls werden sie es als das freiere Recht ansehen, ihre Stimme denen zu geben, die sie aufgrund persönlicher Erfahrung für die anstehenden Aufgaben geeignet halten. Dass daraus nicht notwendig Chaos entsteht, sehen wir an den Auswahlentscheidungen des Marktes (s. mein später folgender Beitrag „Die kanditatenfreie Persönlichkeitswahl“). Diese finden völlig „kandidatenfrei“ statt und bringen trotzdem – und zwar spontan – eine vernünftige Rangordnung beim zur Auswahl stehenden Angebot hervor.

Nicht dass ich geradewegs behaupten wollte, Wahlkandidaten würden bei den derzeitigen Wahleinrichtungen immer durch entsprechende Maßnahmen „von oben“ bestimmt, aber es besteht die Möglichkeit dazu, dies trotz gesetzlicher Regelungen – etwa durch eine Staatsverfassung oder ein Parteiengesetz.

In einer Gesellschaft mit kandidatengebundener Listenwahl findet das alltägliche Leben und Treiben der Listenplatzhalter jenseits des Erfahrungshorizonts der Wählerbasis statt. Man kennt nicht wirklich, was man wählen soll. Die Wahlkandidaten sind den Wählern fremd. Schon die Missachtung der Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit machen eine kandidatengebundene Wahl zur Farce. Ihr größtes Manko ist jedoch die Anonymität der zu Wählenden. Sie ist bedingt durch die fehlende Unmittelbarkeit beim Wahlvorgang.

Der Begriff Unmittelbarkeit im Zusammenhang mit politischen Wahlen hat einen völlig neuen Sinn erhalten. Die heute sogenannte „Unmittelbarkeit“ kommt unleugbar auf dem Wege einer Vermittlung zustande:  durch Medienleute und Wahlkampfmanager. Die Wahlkandidaten werden über eine Art Waschmittelwerbung bekannt gemacht. Dadurch wird Unmittelbarkeit aber gerade verhindert. Mit der Unmittelbarkeit der Wahl in anderen Lebensbereichen, z. B. bei der Warenauswahl am Markt (wo selbst bei Katalog- oder Digitaleinkäufen die Entscheider das Recht haben, nach direktemKontakt mit der Ware den Verkauf rückgängig zu machen, hat der Unmittelbarkeitsbegriff der kandidatengebundenen Listenwahl nichts zu tun. Dies auch dann, wenn einige deutsche Verfassungsrichter, wie sich bei Urteilen zum Wahlrecht erwiesen hat, dies zu glauben scheinen.

Die Dunkelheit um das Leben und Denken der Kandidaten ist der schlimmste Feind einer demokratisch beabsichtigten Personenauswahl. Sie wird zusätzlich befördert durch die in Deutschland übliche „Zweitstimmenregelung“. Aufgrund dieser Regelung haben die Wähler keine Möglichkeit, zwischen bestimmten Personen auszuwählen. Nur politische Parteien als anonyme Machtblöcke stehen zur Wahl. Zwischen ihren Programmen auszuwählen, erinnert an das Tun eines Kindes, das sich aus verschiedenfarbigen Ostereiern eines nach eigener Wahl heraussuchen darf.

Nicht nur die Methode, politische Parteien (statt bestimmter Personen) auf den Listen auszuwählen, dokumentiert den anonymen Charakter der kandidatengebundenen Listenwahl. Auch jene Wahlkandidaten, die als Listenerste im Scheinwerferlicht der Medien stehen und somit einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen, bleiben für die weitaus meisten Wähler anonym. Ihr Gesicht und ihre Äußerungen werden für den öffentlichen Auftritt zurechtgeschminkt. Von ihrem wahren Leben, ihren persönlichen Einstellungen, ihren Vorlieben und Abneigungen erfährt das Wahlvolk nichts. Sie werden sogar bewusst vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Das Verbergen wirkt sich auch auf die politische Sprache aus. Die Wahlkandidaten verstecken sich hinter besonderen Sprechweisen. Sofern sie ihren Wählern nicht überhaupt mit einer Kindergartensprache begegnen, pflegen sie einen extraordinären Kommunikationsstil. Colin Crouch diagnostiziert daher einen „Verfall der politischen Kommunikation“:  „Wir haben uns daran gewöhnt, dass Politiker nicht wie normale Menschen sprechen, sondern aalglatte, ausgefeilte Statements von sich geben, die einen ganz eigenen Charakter haben“ (2020).

Das Wählen in Form einer kandidatengebundenen Listenwahl ist nichts anderes als ein Blindekuhspiel für kalendarisch Erwachsene. Die Anonymität der Wahlkandidaten und damit ihre Ferne vom Volk ist ein glatter Schlag ins Gesicht jener Wähler, welche die politische Wahl ernst nehmen und sie im Sinne einer echten Auswahl vollziehen wollen. In dieser Hinsicht erscheinen besonders die Europawahlen absurd.

Listenwahlen verdummen den „Souverän“ zum Kreuzchenmaler auf einem vorgefertigten Formular. Sie gestehen den Wählern  „Entscheidungsrechte von unüberbietbarer Primitivität zu. Sie fordern ihnen ein Wahlverhalten ab, das dem Lallen eines Kindes gleicht“ (Gustav Horn, 1980). Jeder Gemüseeinkauf auf dem Wochenmarkt verlangt dem Bürger mehr Verstand und Urteilskraft ab, als der Gang zur Wahlurne, mit einer Liste in der Hand. Für diese Art des Wählens spielt es in der Tat keine Rolle, ob das Wahlalter auf 18, 16 oder gar 14 Jahre festgesetzt wird. Eine erregte Diskussion über das Herabsetzen des Wahlalters, so wie sie momentan wieder geführt wird, ist vor dem Hintergrund des Anonymitätsproblems geradezu lächerlich.

Wo das Auszuwählende unbekannt ist, degeneriert das Wählen zum bloßen Tippvorgang. Es besteht die Gefahr einer Negativauswahl. Hier gelangt nur zufällig Professionalität an die Spitze. Der Beweis dafür, dass bei Parlamentswahlen auch Negatives ausgewählt wird, ist die nicht abreißende Kette politischer Skandale und das offensichtliche Versagen der Gewählten bei Entscheidungen von existentieller sozialer Bedeutung. Schon mancher hat das Qualitäts- und Kompetenzdefizit derzeitiger Politik beklagt. Dass die übliche Wahlmethode das Defizit mitverantworten könnte, ist Vielen jedoch befremdlich und unglaubhaft.

Eine Wählergruppe, die nach dem Modell der kandidatengebundenen Listenwahl wählt, entscheidet nicht vernunftgerecht, sondern gläubig. Wen sie als Kandidaten zur Auswahl hat, entscheiden andere. „Die Kandidatur ist das Werk einer organisierten Minderheit, die ihren Willen der Mehrheit auferlegt… Die [Wähler-] Gruppe bevollmächtigt keinen Vertreter, sie tauscht fügsam ihre Stimmabgabe gegen die vage Hoffnung, anschließend tatsächlich vertreten zu werden. Und für die Eliten ist Stellvertretung nur mehr eine willkommene Machtquelle, um sich selbst zu reproduzieren und die Repräsentierten gefügig zu halten“ (Wolfgang Sofsky, 2019).  Eine „Elite“ ist am Ende der Wahl zwar da, aber nicht eigentlich gewählt. Die blind vertrauende Wählergruppe geht davon aus, dass es schon irgendwie gut gehen wird mit den aus der Liste Ausgesuchten.

Die kandidatengebundenen Listenwahlen sind sogenannte Mehrheitswahlen. Eine Mehrheitswahl kann man durchaus „als einen zu wenig hinterfragten Skandal bezeichnen“ (Robert Nef, 2012; s. auch Hans-Herrmann Hoppe, 2004 und 2012). Denn dahinter verbirgt sich – ob gewollt oder nicht – die Auffassung, dass man mit Hilfe einer Mehrheit innerhalb einer Gruppe von Menschen näher an die Wahrheit herankommt als ohne sie. Außerdem:  Mehrheitsentscheide „geben der Mehrheit das Recht, alle Ressourcen auch gegen den Willen der Minderheit einzusetzen“ (Wolfgang Sofsky, 2019). Schon John Locke wusste:  Die Entscheidungen einer Mehrheit von Menschen verpflichtet die übrigen mit (Nachdruck 1977). Der Wille der Mehrheit beansprucht, Gesamtwille zu sein (Emmanuel de Sieyès, Nachdruck 1968).

Selbst wenn man sich der pauschalen Behauptung Henrik Ibsens, die Mehrheit habe nie das Recht auf ihrer Seite, nicht anschließen mag, so ist doch nicht zu leugnen, dass bei Mehrheitsentscheiden viele Individuen mit ihren legitimen Anliegen auf der Strecke bleiben. „Wenn das ‚Wir‘ entscheidet, ist für das ‚Ich‘ kein Platz mehr“ (Birgit Kelle, 2016).

Ein noch so ausgeklügeltes Kandidatenwahlsystem funktioniert nur nach der Mehrheitsregel. Ein durch diese Regel dominiertes Wahlsystem macht politische Entscheidungen möglich, die im Grunde sogar von keiner Mehrheit akzeptiert würden. Darauf weist Friedrich August von Hayek im dritten Band seines Werkes „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ (1981 b) hin. Er schreibt dort, dass „die Notwendigkeit, organisierte Mehrheiten zu bilden, um ein Programm besonderer Handlungen zugunsten spezieller Gruppen zu unterstützen, eine Quelle der Willkür und Parteilichkeit ins Spiel (bringt) und Ergebnisse (zeitigt), die mit den moralischen Prinzipien der Mehrheit unvereinbar (sind)“.

Demokratie im Sinne von Mehrheitsherrschaft galt im Altertum als Schimpfwort für die seinerzeit schlechteste Regierungsform. Aristoteles nennt eine Regierung auf der Basis von Mehrheiten „eine auf eine große Gruppe von Menschen ausgedehnte Tyrannis“. Die amerikanischen Gründerväter hielten eine durch Mehrheiten zustande kommende Demokratie ebenfalls für eine Art Tyrannis, „weil sie vor der fundamentalen Labilität eines Regierungssystems zurückschreckten, in dem der Geist des Öffentlichen untergegangen war in einem Meer einmütiger ´Leidenschaften’, volkserhebender Gefühle und patriotischer Redensarten“ (Hannah Arendt, 1994). Der Franzose Alexis de Tocqueville spricht von einer „Diktatur der Mehrheit“ (Nachdruck 1956). Für den Engländer John Stuart Mill ist die Mehrheitsherrschaft die potentiell repressivste Gesellschaftsform. Sie sei fürchterlicher als alle anderen Arten von Tyrannei („Tyranny of the Majority“; s. Nachdruck 2009).

Um bei der kandidatengebundenen Listenwahl Mehrheiten zu gewinnen, müssen alle Register des öffentlichen Sponsorings gezogen werden. Die politische Klasse muss zusehen, dass sie möglichst viele der potentiellen Wähler alimentiert, damit sie ihre Existenz mit dem Argument rechtfertigen kann, dass sie das „Glück für alle“ vor Augen habe. Friedrich August von Hayek spricht vor diesem Hintergrund passend von „Schacherdemokratie“ (1981a).  Eine kandidatengebundene Listenwahl sei nicht korruptionsresistent, ergänzt Wolfgang Sofsky (2019).

Mehrheitswahlsysteme weisen über kurz oder lang der Demoskopie eine überragende Rolle im gesellschaftspolitischen Raum zu. Eine der ersten, die das erkannte, und die mit dieser Erkenntnis richtig Geld machen konnte, war die legendäre „Pythia vom Bodensee“ Elisabeth Nölle-Neumann.

Mehrheitswahlsysteme sind dafür verantwortlich, dass die Demokratie viele Feinde hat, von denen einige sie sogar abschaffen wollen, z. B. Hans-Hermann Hoppe (2005 und 2012). Weil sie nur das ominöse Demokratiemodell von heute kennen, das durch Mehrheitswahlen und Parteioligarchien gekennzeichnet ist, sind manche Freiheitsfreunde der Auffassung, es solle – angesichts der Ergebnisse, die eine solche Gesellschaftsform hervorbringt – besser gar keine Demokratie mehr geben. Ein totaler Demokratiemord würde jedoch auch das vernichten, was einige die „Demokratie des Marktes“ nennen, und in der sie zurecht eine echte Demokratie sehen.

In meinem oben genannten späteren Beitrag werden wir sehen, dass es durchaus Wege gibt, Demokratie zu realisieren, und zwar Demokratie im eigentlichen Sinne, in der jeder Einzelne von Vorgaben völlig unabhängig wählen kann und dabei seine politische Souveränität behält. Mit Mehrheitsentscheiden kommt man allerdings nicht dorthin.

Zitierte Literatur:

Apel, Hans, Die deformierte Demokratie – Parteienherrschaft in Deutschland, Stuttgart 1991

Arendt, Hannah, Über die Revolution, München 1994

Arrow, Kenneth, Social Choice and Individual Values, New York 1951

BWahlG = Bundeswahlgesetz in:  GG-Grundgesetz, München 2016

Crouch, Colin, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2020

Eckardt, Dietrich, Protokolle der Aufklärung, Berlin 2021, Band 1:  Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum heutigen Bildungsbetrieb

Eckardt, Dietrich, Protokolle der Aufklärung, Berlin 2021, Band 4: Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft

Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland, München 2016

Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 3 Bände:

Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, Landsberg/Lech 1981

Hoppe, Hans-Hermann, Demokratie – Der Gott, der keiner ist, Leipzig 2004

Hoppe, Hans-Hermann, Der Wettbewerb der Gauner – Über das Unwesen der Demokratie und den Ausweg in die Privatrechtsgesellschaft, Berlin 2012

Horn, Gustav, Wählerspezialisierung – ein Langzeitproblem der Demokratie, Frankfurt/M. 1980

Kelle, Birgit, Betreut statt regiert, in:  Infantilismus – Der Nanny-Staat und seine Kinder, Hrsg. Christian Günther, Werner Reichel, o. O. 2016

Leibholz, Gerhard, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1964

Leibholz, Gerhard, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltungswandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin 1998

Locke, John. Zwei Abhandlungen über die Regierung, Nachdruck Frankfurt/M. 1977

Mill, John Stuart, On Liberty, 1859 Nachdruck Stuttgart 2009

Nef, Robert, Direkte Demokratie und Liberalismus – Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip, Berlin 2012

Scheer, Hermann, Parteien kontra Bürger, Die Zukunft der Parteiendemokratie, München 1979

Sieyès, Emanuel Joseph, Was ist der Dritte Stand? (Hrsg. Rolf Helmut Foerster) Frankfurt/M. 1968

Sofsky, Wolfgang, Macht und Stellvertretung, Leipzig 2019

Szpiro, George, Die verflixte Mathematik der Demokratie, Berlin 2011

Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie in Amerika, Nachdruck Frankfurt/Main 1956

Dieser Beitrag ist ein verkürzter Auszug aus dem Werk „Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft“ vom Verfasser (s. Literaturverzeichnis).