Die Vorteile der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de, www.dietrich-eckardt.com)

„Die wirksame Beschränkung der Macht ist das wichtigste Problem der Gesellschaftsordnung“ (Friedrich von Hayek, 1981 a). Dafür gibt es bisher meines Wissens keinen anderen Weg als eine wahrhafte Demokratie und eine Wahl., die zu ihr passt. Die Demokratie ist die bisher einzig bekannte Form schlüssig-human organisierter Gesellschaftlichkeit. Das gilt auch für jede private Vereinigung. In einer menschenrechtsgemäßen Demokratie müssen Wahlen den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit entsprechen. Nur wird man sich bei seiner Vorstellung von politischerWahl nicht an dem orientieren können, was heutzutage unter dem Begriff „freie, gleiche und allgemeine Wahl“ die Bühne betritt. Hier zeigt sich gerade das nicht, was wir unter demokratischer Wahl verstehen (s. meinen obigen Beitrag „Die kandidatengebundene Listenwahl“).

Für eine wahrhaft demokratische Gruppenstrukturierung kommt im Unterschied zur heute üblichen kandidatengebundenen Listenwahl eine ganz andersartige Form der Wahl zum Zuge:  die von mir sogenannte kandidatenfreie Persönlichkeitswahl. Diese Wahl orientiert sich an den Bewertungs- und Auswahlprozessen des alltäglichen Lebens. Sie ist also im Grunde nicht neu. Das beweisen die seit ewigen Zeiten stattfindenden Entscheidungsprozesse z. B. des Marktes. Der Bauplan der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl orientiert sich an diesen Prozessen. So musste dieser Plan – um ein Wort Albert Einsteins in Bezug auf die Naturwissenschaft zu zitieren – nicht eigens erfunden, er konnte bei den alltäglich ablaufenden Ereignissen gefunden werden.

Die Menschen in ihrer Rolle als Tauschpartner am Markt sind viel „Basisherrschaft“ gewohnt. Sie sind gewissermaßen demokratieverwöhnt. Kann die Struktur der Auswahlvorgänge am Markt als Vorlage dienen für die Konstruktion eines Modells der Personenauswahl, und zwar eines Modells, das zu einer Gruppenstruktur passt, die als demokratische beabsichtigt ist?

Die Wesensmerkmale der Entscheidungsprozesse des Marktes herauszufinden, das hat offenbar bisher niemand versucht. Es besteht gute Aussicht, bei deren Analyse auf Strukturen zu stoßen, die uns helfen, unverfälscht natürliche und freie Auswahlvorgänge besser zu verstehen. Schauen wir uns deshalb zunächst die Vorgänge an einem nichtmanipulierten Markt genauer an. Vielleicht finden wir hier Anregungen für ein neues Modell zur Strukturierung von Personengruppen. Dieses Modell sollte erlauben, auf die demokratiedefizitären Wahlsysteme, die wir heute haben, zu verzichten

Können durch eine Form der Wahl, die sich z. B. an der Struktur der Entscheidungsprozesse des Marktes orientiert, die Defizite, die wir bei der kandidatengebundenen Listenwahl feststellen, beseitigt werden? Kann bei Auswahlen innerhalb von Personengruppen eine ähnliche zwanglose Ordnung entstehen wie auf dem Markt? Auch bei Personengruppen gibt es ja so etwas wie „Markt“ mit seinem speziellen „Angebot“. Demzufolge müssten auch hier Ordnungen hervorgebracht werden können, die genauso freiheitskompatibel sind wie die eines Marktes, auf dem Wettbewerb herrscht.

Der Markt ist, wie bereits der Ökonom Ludwig von Mises und der Sozialphilosoph Carl Christian von Weizsäcker feststellten, eine durch und durch demokratische Einrichtung. Wenn man es recht bedenkt, kann von Demokratie heute eigentlich nur im Zusammenhang mit Wettbewerb und Markt gesprochen werden. Denn nur dort fallen Entscheidungen an der sozialen „Basis“. Bei den heute üblichen politischen Wahlvorgängen vermissen wir solche Basisnähe. Tatsächlich ist der Markt ein durch und durch demokratisches Gebilde. Das wird vergessen, wenn man mit dem Wort „Demokratie“ immer nur eine Unterwerfung unter Mehrheitsbeschlüsse assoziiert (dies schon bei John Locke, Nachdruck 1977).

Die Demokratie des Marktes hat sowohl in kleinen als auch in großen Gesellschaften immer ganz unauffällig und reibungslos funktioniert. Gerade diese Unauffälligkeit deutet auf ihr störungsfreies Wirken. Hätten sich Leute veranlasst gesehen, sich über sie zu beklagen, wäre sie längst in aller Munde, so wie die oft verteufelte Marktwirtschaft selbst. So aber treibt sie unbemerkt ihr stilles Wesen, fernab von den marktkritischen Verbalorgien einiger Ethikkommissare und der „Clowns vom Feuilleton“ (Peter Sloterdijk).

Sofern ein freier Markt durch Wettbewerb gekennzeichnet ist, kann man ihn mit Fug und Recht das „genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“ nennen (Gerhard Schwarz, 1995). Der Markt hat „die größte Reduzierung willkürlicher Gewalt mit sich gebracht, die jemals erreicht worden ist“ (Friedrich August von Hayek, 1981a; vergl. auch Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, Carl Christian von Weizsäcker, Christoph Braunschweig u. a.). Einen gewaltigen Schwung in Richtung Demokratie des Marktes hat das Internet bewirkt. Infolgedessen kann das Marktangebot jetzt weltweit individuell bewertet und genutzt werden.

Die Wesensmerkmale der marktspezifischen Entscheidungsvorgänge rechtfertigen es, hier von einer echten Demokratie zu sprechen. Denn wo Entscheidungen basisnah fallen, da herrscht Demokratie. Deshalb konnte Gert Habermann (1995) sagen:  Wo der Sinn für freien Wettbewerb und Markt stirbt, da stirbt auch der Sinn für Demokratie.

Verwunderlich ist, dass man der Demokratie des Marktes und ihren naturgewachsenen Entscheidungsstrukturen bislang so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Meines Wissens gibt es noch keine Untersuchung dazu. Es ist jetzt an der Zeit, diese Strukturen ans Licht zu ziehen. Nähern wir uns dem Thema „Demokratie“ also einmal von einer etwas ungewohnten Seite:  vom Markt her und den dort vorherrschenden Usancen. Vielleicht eröffnet sich hier die Möglichkeit, eine demokratische Organisation von Personengruppen auf einem ganz anderen Weg als bisher hervorzubringen, ohne Demokratie neu erfinden zu müssen (Ulrich Beck, 1993).

Die Analyse der ursprünglichen Entscheidungsprozesse des Marktes, die als Grundlage für das gleich darzustellende Wahlmodell dienen, offenbart einige plebiszitäre Elemente. Die konnten nutzbringend in das Modell eingebracht werden. Mit der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl haben wir also ein Wahlsystem, in dem die beiden Prinzipien Plebiszit und Repräsentanz eng miteinander verknüpft sind.

Das Wesen der Demokratie des Marktes ist abzulesen an der Art der dort ablaufenden Auswahlentscheidungen. Bei einem von marktfremden Einflüssen unbehelligten freien Markt gehen solche Entscheidungen immer „von unten“ aus, also von den jeweiligen Endabnehmern des Marktangebots. Die Entscheidungen der Endabnehmer beeinflussen die Entscheidungen der Endproduzenten, diese die Entscheidungen der Zwischenproduzenten, die dann – eventuell über weitere Zwischenstufen – die Entscheidungen der Erstproduzenten (z. B. Rohstofflieferanten) bestimmen. Die Gesamtheit der Auswahlentscheidungen des Marktes bildet ein Netzwerk mit verschiedenen Ebenen. Bei genauerer Inaugenscheinnahme dieses Netzwerks zeigt sich:  es gibt eine Reihe typischer Merkmale.

  • Das gesamte Marktangebot steht – natürlich immer im Rahmen verfügbarer Ressourcen – den Marktteilnehmern zur freien Auswahl. Es gibt niemanden, der das Recht für sich in Anspruch nimmt, diese Wahlfreiheit zu blockieren.
  • Der Zugang zum Markt ist allen gestattet, die Güter und Leistungen anbieten oder abnehmen wollen.
  • Unerachtet aller Ressourcenungleichheit hat bei der Auswahl der Leistungen und Produkte die Entscheidung eines jeden das gleiche Gewicht.

Das bedeutet, dassdie MenschenrechtsprinzipienFreiheit, Allgemeinheit und Gleichheitbei den Wahlentscheidungen des freien Marktes beispielhaft gewahrt sind. Die Auswahlmöglichkeiten sind zwar individuell unterschiedlich. Sie sind bestimmt durch persönlichen Geschmack, durch Werbefeldzüge, durch überkommene Gewohnheiten, durch moralische Tabus, durch die Größe des Geldbeutels und durch manches Andere. Aber innerhalb dieser physischen Grenzen sind die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit stets gewahrt.

Soviel zur Präsenz der drei Menschenrechtsprinzipien am Markt. Darüber hinaus beobachten wir:

  • Die Daten, die bei der Auswahl des Marktangebots zur Entscheidung stehen, verbleiben nicht in der Anonymität, sondern liegen offen zutage. Jeder kann in einem für ihn überschaubaren, nichtanonymen Bereich entscheiden. Die Endverbraucher wählen zwischen Produkten aus, die für sie direkt und sinnlich fassbar sind, die Endproduzenten wählen ebenso direkt zwischen Halbfertigwaren aus usw. bis hin zu den Rohstofflieferanten. Allen Marktteilnehmern steht es frei, sich genaue Kenntnis über den Entscheidungsgegenstand zu beschaffen. So ist etwa auch bei den „blinden“ Katalog- oder Internetkäufen ein Rückgaberecht des Kaufgegenstands nach Erhalt und Inaugenscheinnahme ohne Zahlungsverpflichtung garantiert. Jedenfalls ist der Weg zur direkten Kenntnisnahme des Angebots nicht verbaut. Das Offenliegen der Kaufobjekte ist gewährleistet:  Votationsluzidität.

Natürlich bleibt es jedem Marktteilnehmer überlassen, auf eine originäre Prüfung des Angebots zu verzichten und seine Auswahl nur aufgrund guten Glaubens oder aufgrund mittelbarer Kenntnis zu treffen, z. B. über Erzählungen oder über Print- und Bildmedien. In all diesen Fällen bleibt jedoch der Weg zur unmittelbaren Kenntnisnahme offen.

  • Einige der miteinander konkurrierenden Angebote werden im Hinblick auf ihr Preis-Leistungs-Verhältnis anderen gegenüber bevorzugt. Sie werden öfter nachgefragt und ausgewählt als andere. Sie finden viele Abnehmer:  Votationskumulation.
  • Diejenigen Anbieter, die Abnehmer finden (und für deren Angebot sich u. U. vieleAbnehmer entscheiden), übertragen deren Präferenzen bei ihren eigenen Auswahlentscheidungen gesamthaft auf jene, die sie sich selbst als Anbieter (Lieferanten) aussuchen:  Votationstransfer.
  • Jede heute getroffene Auswahlentscheidung kann, sofern sie keine vertraglich befristete Bindung nach sich zieht, morgen schon wieder zugunsten einer neuen Entscheidung revidiert und korrigiert werden:  Votationspermanenz.
  • Das Entscheidungsnetzwerk des Marktes mag viele Quer- und Nebenverbindungen haben. Eines aber steht fest: Die Entscheidungen an der Spitze sind nachrangig, die an der Basis vorrangig. Anders als bei der Planwirtschaft wird „unten“ bestimmt, was „oben“ geschieht. Wir haben also eine aufsteigende Entscheidungsrichtung: Votationsaszens. Dadurch entsteht eine Rangordnung, die im Idealfall einer Pyramide gleicht.

Zusammenfassend lässt sich sagen:  Die Votationsluzidität erlaubt, dass Wahlentscheidungen echte Auswahlentscheidungen sind. Die Votationskumulation zeigt den allgemeinen Beliebtheitsgrad eines Angebots an. Der Votationstransfer sorgt für die Weitergabe der Nachfrageinformation an Vorproduzenten. Die Votationspermanenz gestattet die schnelle Korrektur einer Fehlentscheidung. Die Votationsaszens mit der Nachrangigkeit der oberen Entscheidungen sichert die Souveränität der Konsumentenbasis. Das bewirkt einen tiefgestaffelten Minderheitenschutz, wie Carl Graf von Hohenthal richtig erkennt (FAZ vom 27.9. 1986).

Meine Leser sehen mir nach, dass ich mich für die Bezeichnung der Wesensstruktur der Marktentscheidungen mangels einschlägiger Vorarbeiten zu neuen Wortschöpfungen gedrängt sah. Gebräuchliche Worte unserer Alltagssprache würden die hier verfolgte Absicht verwässern. Denn die zielt auf die Offenlegung von Wesensstrukturen („Konstituentien“). Solange niemand zum Wortgebrauch bessere Vorschläge macht, werde ich die von mir gewählten Bezeichnungen beibehalten.

Will eine auf Menschenrecht und Freiheit eingeschworene Gesellschaft die politische Form, die ihr gemäß ist, dann muss sie eine Demokratie favorisieren. Das wäre aber eine Demokratie, die mit den heute existierenden „Demokratien“ nichts, mit der Demokratie des Marktes aber sehr viel gemeinsam hat. Die Entscheidungsstrukturen des Marktes schaffen eine zwanglose Ordnung innerhalb der Gruppe der Marktteilnehmer. Die entsteht wie von selbst und ohne Zutun irgendwelcher Ordnungsinstanzen. Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft erzeugt auch der Markt. Aber die sind von der „Basis“ her geschaffen und von ihr jederzeit revidierbar. Insofern unterscheiden sie sich wesentlich von denen, die durch kandidatengebundene Listenwahlen entstehen.

Ich wage nicht zu behaupten, dass das von mir jetzt vorzuschlagende Wahlmodell die optimale Lösung des Problems der Machtdelegation und der Qualitätsauswahl in Wählergruppen ist. Eines lässt sich aber zeigen:  Die Entscheidungs- und Abstimmungsstrukturen z. B. des Marktes, die einen durchaus basisdemokratischen Charakter haben, lassen sich auf andere demokratisch beabsichtigte Organisationsgebilde übertragen, etwa auf Personenvereinigungen. Vielleicht kann man damit eine Konfusion entwirren, die Ingolfur Blühdorn so beschreibt:  „Demokratie ist heute der Name für das, was wir nicht haben wollen – doch was wir uns dennoch sehnlich wünschen“ (2019). Diese Erscheinung nennt er das „demokratische Paradoxon“.

Die Lösung des heiklen Problems, einen Teil der Eigenmacht, die jeder von uns aufgrund seiner natürlichen Existenz hat und eigentlich gern selber behalten möchte, an jemand anderen zu delegieren, ist:  man richtet diese Delegation – als Wahl – so ein, dass sie zumindest frei ist. Darüber hinaus müssen alle Mitglieder einer Wählergruppe das Recht haben, mit gleichwertiger Stimme zu wählen. Das heißt, eine Wahl muss den drei Menschenrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit entsprechen.

Um eine genauere Vorstellung über eine Wahl im Sinne einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl zu gewinnen, lassen wir die fiktiven Wähler ohne vorherbestimmten Termin einfach drauflos wählen. Die Wahl sei so ungezwungen und natürlich wie die Auswahlprozesse auf dem Markt. Warum soll das im Falle einer Personenauswahl in einem Chaos enden? Auf dem Markt endet es ja auch nicht damit.

Jedes Mitglied der Gruppe kann wählen (Allgemeinheit der Wahl). Keiner wird zur Wahl gezwungen. Das Mitglied wird, wenn es überhaupt wählen will, diejenigen auswählen, die ihm durch unmittelbar miterlebendes Beobachten und Beurteilen am genehmsten sind. Die Wahl findet also ohne vorbestimmte Wahlkandidaten und ohne festgelegten Wahltermin statt (Freiheit der Wahl). Bei seiner Entscheidung hat ein Wähler die gleiche Entscheidungsmacht wie alle anderen, nämlich eine Stimme (Gleichheit der Wahl). Die Chance der Stabilität innerhalb einer Organisation ist am größten, wo jeder selber bestimmt, wen er über sich dulden will, wo also die drei Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit optimal im Wahlvorgang verankert sind.

Bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl haben es die Wähler selbst in der Hand, diejenigen, die sie wählen wollen, lebensnah kennen zu lernen. Die Frauen- und Männerpersönlichkeiten ihrer nächsten Umgebung sind ihnen besonders vertraut. Alles, was sie tun und lassen, können sie direkt wahrnehmen und beobachten. Damit ist im Falle einer Wahl solcher Personen die Unmittelbarkeit gesichert. Es entscheiden dann die meisten Wähler auf einer sehr niederen Stufe, aber in einem Bereich, den sie erfahrungsmäßig voll überblicken:  Votationsluzidität. Die Wähler können also wirklich auswählen, und zwar im Sinne des Heraussuchens dessen, was sie subjektiv als das Beste empfinden.

Kann bei einem derart wilden Wahlablauf, ohne fest aufgestellte Kandidaten, eine vernünftige Rangordnung der Gewählten überhaupt entstehen? – Ja, und zwar wegen der Möglichkeit der Stimmweitergabe (Votationstransfer). Wie ist das zu verstehen?

Bei dem einen oder anderen Gewählten werden sich Stimmen sammeln. Zusammen mit seiner eigenen Wahlstimme gibt er die bei ihm gesammelten Stimmen weiter an seinen Auserwählten, d. h. an eine Person, die seiner Auffassung nach für die wahrzunehmende Aufgabe besser geeignet ist als er selbst (Votationskumulation). Die von ihm gewählte Person gibt die Stimmen einschließlich ihrer eigenen nach gleichem Modus ebenfalls weiter und so fort. Dabei sind die Mitglieder der Gruppe gleichermaßen Wählende und Zu-Wählende. Diese Doppelrolle hat jeder solange inne, bis er den Wahlvorgang durch Nichtwahl abbricht.

Beim Votationstransfer kann es „Schleifen“ geben, derart, dass ein Gewählter sich selbst oder einen seiner Wähler wählt. Das wirkt sich so aus, dass sich in beiden Fällen die Stimmenanzahl um eine Stimme erhöht. Eine Doppelzählung von Stimmen ist ausgeschlossen. Denn bei der Auswertung des Wahlergebnisses wird berücksichtigt, dass einem Wähler eine Stimme nicht zweimal zufällt.

Richtig ungebunden und frei wird der Wahlakt erst, wenn man auf festgelegte Wahltermine verzichtet und das Wählen jederzeit zulässt. Durch diese Ungebundenheit (Votationspermanenz) wird verhindert, dass eine unerwünschte Rangordnung von Gewählten ungebührlich lange überlebt. Der Wähler kann seine Stimme jederzeit zurückziehen und jederzeit einen anderen damit begünstigen.

Wegen der Permanenz der Wahl hat die Organisationsstruktur der Wählergruppe ein starkes Veränderungspotential. Das kann im Extremfall zu ständigem Wandel im Machtgefüge der Gruppe führen. Mit dieser „Gefahr“ muss die radikale Wahlfreiheit leben. Denn nur durch sie ist die eigentliche Gefahr zu heben, nämlich das Überdauern obsoleter Machtstrukturen (auch Verfestigung der Macht in Oligarchien). Die Permanenz der Wahl sichert die Souveränität der Wählenden in bisher ungekannter Weise. Sie behalten jederzeit ihre ursprüngliche individuelle Macht. Das von ihnen errichtete Repräsentantensystem kann sich weder verstetigen noch verselbständigen.

Die Permanenz der Wahl wirkt sich beim kandidatenfreien Wahlsystem nicht so destabilisierend aus wie bei anderen Wahlsystemen. Die Stimmenverteilung ist hier zwar prinzipiell labil. Das soll sie auch sein. Aber die Labilität relativiert sich in dem Maße, in dem sich auf der Stufe der Basisentscheidungen stabile Verhältnisse einpegeln:  Ich kann nicht heute jemanden für ein Amt geeignet finden und morgen schon wieder einen anderen. Ein durch ständiges Veränderungsbedürfnis motivierter Wechsel der Entscheidung ist aufgrund vorliegender Erfahrungen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht zu erwarten. Zu erwarten ist eine relativ stabile Gruppenstruktur, die sich über längere Zeiträume hin durchhält und dies trotz Votationspermanenz.

Eine Beleidigung der freiheitlichen Denkungsart wäre es, wenn ein in eine verantwortliche Entscheidungsfunktion Gewählter als Versager oder gar als Rechtsbrecher über die Gebühr lange im Amt bliebe. Der Vorteil des hier vorgestellten Wahlsystems liegt ja gerade darin, dass die Macht je nach Bedarf reibungslos neu übertragen werden kann. Nichtgenehme Machtkonstellationen können schnell beseitigt werden. Es gibt nur einen Weg, oligarchi-sche Strukturen in einer Gruppe nachhaltig zu verhindern:  die Votationspermanenz.

Die infolge der Votationspermanenz nicht vorausberechenbare, sich unter Umständen in rascher Abfolge verändernde Gruppenstruktur der Antimonopole erfordert Wahlauswertungstechniken, über die man erst seit jüngster Zeit verfügt. Eine wirkliche Freiheit des Wählens in Massengesellschaften, die aufgrund der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl jetzt möglich ist, konnte mangels geeigneter Technik in früheren Zeiten nicht geboten werden. Mit Hilfe eines geeigneten EDV-Programms kann man jede noch so geringe Änderung im Machtgefüge einer großen Wählergruppe zeitnah registrieren und sofort die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

Von erheblicher Bedeutung für das hier entwickelte Personenauswahlsystem ist die Votationsaszens, d. h. der aufsteigende Entscheidungsverlauf mit der Nachrangigkeit der oberen Entscheidungen. Dieses Merkmal, zusammengenommen mit den vorher genannten, gestattet es, dass im Extremfall ein einzelner Wähler über Nacht durch seinen einsamen Entschluss die Rangordnung der Gewählten bis in die oberste Spitze hinein verändern kann. Welche Machtfülle mit einer einzigen Stimme, welche Verantwortung aber auch!

Mit so viel Macht und Verantwortung ausgestattet, bekommen die Wähler ein ganz anderes Verhältnis zur Wahl, als das üblicherweise möglich ist. Sie spüren die Macht, die sie mit ihrer Stimme haben, geradezu sinnlich. Sie fühlen sich für voll genommen und bilden ein positives emotionales Verhältnis zum Wahlvorgang aus. Viel engagierter als sonst denken sie über ihre Wahlentscheidungen nach. Viel kritischer prüfen sie die Sinnesart ihrer Mitwelt auf Wählbarkeit hin.

Mit Blick auf die derzeitigen Verhältnisse bei Wahlen bemerkt Robert Nef: „Jeder freiheitlich denkende und fühlende Mensch sollte …die Frage, wer ihn…wie und inwiefern… repräsentieren könne, viel ernster nehmen“ (2012). Das Wählen bei der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl ist in der Tat ernsthafter als bei bisherigen Wahlmodellen. Und es macht mehr Spaß, was kein Widerspruch ist. Daraus erhellt, was für eine interessante Veranstaltung eine Persönlichkeitswahl sein kann. Die üblichen Wahlordnungen degradieren die für die meisten einzige Möglichkeit, ihr Recht auf Mitwirkung geltend zu machen, zum rituellen Brimborium.

Am Ende der Wahl-Prozedur steht eine Gruppenstruktur, in der alle Gewählten eine genau bestimmte Position innehaben. Die Struktur hat die Gestalt einer Pyramide, die sich ständig ändert. In dieser Struktur ist die Stimmenverteilung abgebildet. Dadurch ist eine Rangfolge der Gewählten nach Stimmenanzahl gegeben. So ist vom ersten Tage an, von dem die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl praktiziert wird, eine Rangordnung der Macht innerhalb der Wählergruppe vorhanden:  Welche Gewählten haben Spitzenpositionen und welche haben untergeordnete Positionen inne? Und im Falle einer Stimmengleichheit an der Spitze:  Wann ist eine Entscheidung durch Los erforderlich? Diese Fragen sind auf der Basis des oben angesprochenen EDV-Programms stets aktuell beantwortbar.

Zur Wahlfreiheit gehört auch die Geheimhaltung der Stimmabgabe. Erst sie sichert die Freiheit der Wahl wirklich. Der Wähler muss für den Zu-Wählenden anonym bleiben, nicht aber der Zu-Wählende für den Wähler. Das haben die Wahltheoretiker schon früh erkannt. Warum muss eine Wahl so organisiert sein, dass ein Gewählter nie weiß, wer ihn gewählt hat? – Weil er dann auch nicht weiß, wer ihn nicht gewählt hat! Seine Nichtwähler zu kennen, könnte für den Gewählten eine Versuchung sein.

Das Eigentümliche an der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl ist das Offenliegen aller Optionen durch Ausschluss jeder Form von Anonymität der zu Wählenden (Votationsluzidität). Es gibt bislang keinen öffentlich anerkannten Vorschlag, das Anonymitätsproblem bei politischen Wahlen in Großgesellschaften zu lösen. Im Gegenteil:  die Historie hat eine politische Kultur begünstigt, die die Anonymität der zu Wählenden systemisch verfestigte und damit zum Normalzustand werden ließ (s. meinen obigen Beitrag „Die kandidatengebundenen Listenwahl“).

Die Wahl auf die oberen Plätze der Rangordnung erfolgt bei einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl vorwiegend über Mittelsmänner. Das ist kein Nachteil, sondern ein echter Vorteil. Die im Zusammenhang mit Wahlen gewöhnlich aufgestellte Forderung nach Unmittelbarkeit erhält erst dadurch ihren eigentlichen Sinn. Jeder kann den wählen, den er wirklich kennt, und nicht den, von dem er über Medienleute und Wahlkampfmanager, also über die Meinungsmacher der Öffentlichkeit, unterrichtet ist. Der eigentliche Schaden für eine große Wählergruppe erwächst nicht aus der indirekten Wahl, sondern aus der indirekten Bekanntheit der zu Wählenden.

Wegen der Votationspermanenz ist die Wahl nicht auf bestimmte Wahlperioden beschränkt. Aufgrund dessen arten sie nicht zu periodisch angesetzten und kostenintensiven Superspektakeln aus. Die dabei gewöhnlich unternommenen Verdummungsversuche, beispielsweise in Form plakativer Werbefeldzüge, haben keine Chance. Die Wahlvorbereitung als Wahl-„Kampf“ wird sinnlos. Die Wahlvorbereitung als Persönlichkeitsbildung wird sinnvoll.

Wie in allen Machtgefügen liegt auch in der Demokratie die Machtausübung in der Hand Weniger. Können die trotz aller Vorkehrungen und Vorsichten nicht alles vorher Schwarze in Weiß und alles vorher Weiße in Schwarz verwandeln? Bei einer kandidatenfreien Persönlichkeitswahl können sie das nur, wenn es die Wähler wollen. Ein Machthaber müsste zuvor die ganze durch Wahl geschaffene Rangstruktur bis hin zur Wählerbasis vernichten, um auf unerwünschte Weise Herrschaft ausüben zu können.

Die regulative Vorgabe eines Wahlaktes sollte so sein, dass auch ein Unhold an die Spitze der Macht gelangen kann, ohne dass seine Wähler Grund zur Klage hätten. Wenn sich dies bei einer wahrhaft freien Wahl wirklich ereignete, geschähe es den Wählern recht. Wenn hingegen eine Gesellschaft ein wirklich freies Wählen gar nicht kennt, darf man ihr auch nicht vorhalten, dass sie die Gewählten hat, die sie verdient.

Nachdem der Wahlablauf detailliert dargestellt wurde, ist ersichtlich, auf welch drastische Art und Weise die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl das Auswählen von Menschen individualisiert. Unmittelbare Ich-Du-Beziehungen werden aktiviert. Das Wählen beruht auf den unverfälschten Erfahrungen, die das Ich im alltäglichen Umgang mit den Anderen macht.

Es stellt sich jetzt die Frage:  Wie sieht eine einschlägige Wahlordnung aus?  Nach den Erörterungen in diesem Beitrag könnte der Eindruck entstehen, es bedürfe eines immensen Textaufwands für die einschlägige Wahlordnung. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahlordnung der kandidatenfreien Persönlichkeitswahl kommt mit zwei Sätzen aus:  Jedes Gruppenmitglied hat eine Stimme und kann damit jedes andere jederzeit wählen. Wer die meisten Stimmen hat, ist Repräsentant der Gruppe. – Wie die aufgrund dieser zwei Regularien entstehende Machtstruktur zustande kommt, ist kompliziert und muss durch die oben erwähnte EDV-Anlage ermittelt werden. Selbst bei Gruppen mit relativ geringer Mitgliederzahl funktioniert die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl nicht ohne Zuhilfenahme einer solchen Anlage.

Wie innerhalb einer Wählergruppe durch die kandidatenfreie Persönlichkeitswahl eine Rangfolge der Qualifikation und Kompetenz entsteht, lese man nach in meinem Werk „Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf der Staatsgesellschaft“ (s. u. Literaturverzeichnis). Dort ist auch begründet, warum politische Repräsentanten ihren Beruf ehrenamtlich ausüben müssen und warum Minderheiten bei diesem Wahldesign prinzipiell nicht unterdrückt werden können.

Zitierte Literatur:

Blühdorn, Ingolfur, Simulative Demokratie – Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Frankfurt/M. 2019

Eckardt, Dietrich, Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft, Berlin 2021

FAZ =Frankfurter Allgeneine Zeitung, Frankfurt/M. 1949 ff

Habermann, Gerd, Demokratiereform – Anstöße zu einer ordnungspolitischen Diskussion, Bonn 1995

Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 3 Bände:

Band 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg/Lech 1981

Band 3: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, Landsberg/Lech 1981a

Locke, John, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. Nachdruck 1977,

Nef, Robert, Direkte Demokratie und Liberalismus – Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip, Berlin 2012

Schwarz, Gerhard, Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber, in:  Doering, Detmar/Fliszar, Fritz (Hrsg.), Freiheit: Die unbequeme Idee, Stuttgart 1995

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Dieser Beitrag ist ein verkürzter Auszug aus dem Werk „Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft“ vom Verfasser (s. Literaturverzeichnis).