Menschenrecht und „Grundgesetz“ – Teil 1

Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de, www.dietrich-eckardt.com)

Im Anhang 3 meines Buches über die Persönlichkeitsbildung (2021) habe ich – ausgehend von weitgreifenden Analysen – den Grundsatz: „Alle Menschen haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“ aufgestellt. Er bringt das von mir sogenannte Naturrecht des Menschen zum Ausdruck alle einzelnen Menschenrechte – sofern sie echte Freiheitsrechte sind (es gibt außer diesen angeblich noch andere!) – lassen sich aus ihm ableiten. Er ist das Axiom dieser Rechte. Es war der Amerikaner Walter Lippmann, der m. W. als erster vermutete, dass es ein solches Axiom gibt. Deshalb möchte ich es – auch im Gedenken an seine freisinnige Gesellschaftslehre (1936, deutsch 1945) – Lippmann-Axiom nennen.
Das deutsche „Grundgesetz“ (GG) beansprucht, zumindest einige der aus dem Lippmann-Axiom ableitbaren Menschenrechte, die dort sogenannten „Grundrechte“, zum Fundament für seine übrigen Regulative gemacht zu haben. Am Beispiel des GG möchte ich zeigen, wie weit sich das Organisationsschema einer Gesellschaft (die Verfassung) von der Idee des Menschenrechts entfernen kann, vor allem, wenn nicht das Axiom, sondern nur dessen Derivate bekannt sind. Dabei wird sich erweisen, ob der Freiheitsbegriff von dessen Schöpfern vollumfänglich berücksichtigt wurde, ja ob er in seinem eigentlichen Sinn (s. Dietrich Eckardt, 2021, Anhang 2) überhaupt dort Eingang gefunden hat.
Die Prüfung nehme ich vor, indem ich die einschlägigen Artikel des „Grundgesetzes“ am Lippmann-Axiom und an den elementaren Grundsätzen der Logik messe. Es ist jetzt also zweierlei zu prüfen: 1. Sind alle „Grundrechte“, die in der deutschen Bundesverfassung stehen, mit den Freiheitsrechten des Menschen (Menschenrecht) vereinbar? 2. Sind diese Aussagen in sich widerspruchsfrei?
Die Lektüre meines autobiographischen Werkes „Eine missratene Beziehung – Das Ich im Staate“ (2007) mag den einen oder anderen zu dem Urteil verleitet haben, ich hätte bei der dort zum Ausdruck gebrachten Kritik des „Grundgesetzes“ Vieles überzeichnet, frei nach dem Motto: Wer Alarm ruft, darf dabei nicht flüstern; eine große Entfernung zwischen Idealität und Realität verführe immer dazu, sie sich extrem vorzustellen. Aber selbst wenn so etwas in Rechnung gestellt werden müsste, bleibt doch bedenklich, was deutsche Verfassungstexter und vor allem Verfassungsrevisoren ihren Mitbürgern im Namen von Menschenrecht und Freiheit alles zumuten.
Weil ich das „Grundgesetz“ in der soeben genannten Schrift bereits thematisiert hatte, gibt es zwischen den Inhalten der Schrift und den Untersuchungsergebnissen, die ich gleich bekannt gebe, Überschneidungen. Wichtiges musste neu hinzugefügt bzw. analytisch vertieft werden. Anderes bedurfte der Akzentuierung oder der Korrektur. Außerdem: Es ist hier nicht der Ort, alle Aussagen des GG auf Menschenrechts-Kompatibilität hin zu prüfen. Es sollen nur die untersucht werden, die sich direkt auf das Menschenrecht beziehen.
Das Lippmann-Axiom gilt natürlich schon vor und unabhängig von Staatsverfassungen. Denn er bezeichnet ein in der Natur des Menschen gegründetes Recht. Man könnte einer Staatsverfassung eine Zweckbestimmung geben, die auf diesem Axiom basiert. So ließe sich mit einer knappen Formel ein Verfassungstext in wünschenswerter Kürze und vernunftgerecht einleiten. Wie verfährt hingegen das GG in seinen Artikeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 12a, 13, 14, 16a, 16a, 17, 103 und 104?
Betrachten wir – meine Leser und ich – zunächst die Artikel 1 bis 7. Das GG beginnt im Artikel 1 mit den Sätzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dieser Satz steht in der Tradition der europäischen Aufklärung und erhält von daher seinen guten Sinn. Noch zu Zeiten des Thomas Hobbes hatte der Begriff „Würde“ lediglich die Bedeutung, die wir auch heute noch damit verbinden: öffentliche Wertschätzung eines Menschen (Hobbes, Nachdruck 2013). Seit Immanuel Kant ist der Begriff eng mit dem schlechthin „sittlichen Werth“ des Menschen assoziiert. Um die Würde des Menschen zu begründen, wurde die Freiheitsbegabung als dasjenige Merkmal herausgearbeitet, welches das Menschsein essentiell bestimmt.
Nach Artikel 1 folgen Aussagen, die wohl dem Menschenrechtsaxiom (s. o.) zuzuordnen sind. Das ist aber nicht überall ersichtlich. So erscheint der Inhalt des Axioms etwas verworren in den Artikeln 2/1 Satz 1 (Allgemeinheit und Freiheit) und in Artikel 3/1 GG (Gleichheit). Weil das GG im Artikel 2/1 die im Menschenrechtsgrundsatz verwendete Redewendung von der „freien Lebensentfaltung“ durch „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ersetzt, muss in einem weiteren Satz des Artikels ein „Recht auf Leben“ noch einmal extra formuliert werden. Und außerdem: wenn wir im Artikel 2/2 Satz 2 lesen: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“ soll das wohl heißen, dass die Unverletzlichkeit des Menschenrechts (Art. 1/2, Satz 1) diese Freiheit noch nicht berücksichtigt hatte.
Wie weit weg sogenannte „Grundrechte“‘ vom gleichen Recht auf freie Lebensentfaltung für alle Menschen sein können, sei am Beispiel des Gleichheitsprinzips gezeigt. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es zwar im Artikel 3/1 GG. Jedoch nicht nach den Vorstellungen, die anderen Artikeln des GG offenbar zugrunde liegen.
Der sich aus kaiserlicher Bedienstetentradition herleitenden Klasse des „hoheitlichen Gewerbes“ (so der ehemalige Parlamentarier Ulrich Lohmar, 1978) – durch die schlimme Zeit des Dritten Reiches ein wenig düpiert, wenn auch nicht entrechtet – wurden 1949 in der Neufassung der deutschen Verfassung ihre Privilegien im Art. 33/5 GG aufs Neue festgeschrieben: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln.“. Nun ist klar, warum (zum Schein?) das Gleichheitsprinzip – in Artikel 3/1 GG bereits explizit formuliert – in den Artikelabsätzen 33/1 bis 33/3 GG noch einmal feste beschworen werden musste: offenbar sollte von der Festschreibung der Beamtenprivilegien (Art. 33/5 GG) abgelenkt werden.
Diese Privilegien werden durch „die Ausübung hoheitlicher Befugnisse“ (Artikel 33/4 GG) dieses Personals gerechtfertigt (zum Begriff „Hoheitlichkeit“ und seine Tücken siehe der Verfasser, 2021 a). An den Vorrechten, die die früheren Oberhäupter, Kaiser und Könige, zur Absicherung ihrer Bediensteten geschaffen hatten, wurde in der späteren deutschen Republik nichts geändert. Wie wirkt sich das konkret aus?
Ein mit „Personenschutzmaßnahmen“ begründetes, einigermaßen komfortables Privileg für die obersten deutschen Beamten ist u. a. die Bereitstellung eines erklecklichen Fuhrparks durch die staatliche Finanzkasse auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst. – „Gerhard Schröder hat die meisten, Helmut Schmidt die modernsten und Helmut Kohl die dicksten Autos… So stehen Schröder (SPD) gleich sieben Fahrzeuge zur Verfügung, darunter neben mehreren Mercedes-Limousinen zwei VW-Transporter T5. Schmidt (SPD) begnügt sich mit vier Autos, allerdings waren zwei davon besonders teuer, nämlich je 94275,55 Euro überwies der Bund für zwei Mercedes 420 cdi. Kohl (CDU) wiederum reist am bequemsten von allen, er verfügt über drei, allerdings schon etwas ältere Mercedes 600 SEL sowie drei kleinere Mercedes-Modelle“ (SPIEGEL, Nr. 46/2012).
Für vom Dienst ausgeschiedene Funktionäre des Staatsapparats werden weiterhin – vom Publikum zumeist unbemerkt – Geschäftsräume inklusive Büropersonal unentgeltlich bereitgestellt. Diese Räume werden teilweise für Privatangelegenheiten, z. B. zur Erzielung von Nebeneinkünften (zusätzlich zur opulenten Altersrente) genutzt. Auch die ehemaligen „First Ladys“ profitieren davon. Sogenannte „Dienstfahrzeuge“ (inklusive Fahrer) sind für Freizeitaktivitäten, z. B. zur Mitnahme von sperrigem Sportgerät ausgestattet. Kosten für hochpreisige Hotels ohne Anlass der Reise werden erstattet. Das sind oft Reisen zum Geburtstag von Bekannten und Ehefrauen oder in erlesene Freizeitparks (SPIEGEL 39/2018).
Es ist manchmal schon heftig, mit welcher Unverfrorenheit die Mitglieder der Obrigkeit und deren Kombattanten die sogenannte „Gleichheit vor dem Gesetz“ auf der Basis von Art. 33/5 GG für sich in Anspruch nehmen. Ist deren Altersversorgung an sich schon exklusiv, so spottet es jeder Beschreibung, wie z. B. im wiedervereinigten Deutschland alle ehemaligen Westbeamten, die nun im Osten des Landes Dienst tun, ihren Rentenanspruch nicht dem rechtmäßigen Dienstort angepasst, sondern durch Tricks einen fiktiven Dienstort im ehemaligen Westen der Republik erfinden. Sie genießen damit nach ihrer Verrentung bessere, ihnen an ihrem Dienstort eigentlich nicht zustehende Versorgungsbezüge. Vor diesem Hintergrund ist übrigens auch verständlich, dass staatliche Dienstleistungen nur zu Wucherpreisen zu haben sind. (Ca. die Hälfte der Eigentumszuwächse der deutschen Bevölkerung fließt dem Staat zu; siehe der Verfasser, 2021 a).
Ein weiteres unrühmliches Beispiel für die Gleichheit vor dem Gesetz gemäß Artikel 33/5 ist die Impfstrategie der während der Corona-Pandemie. Wer zuerst dran kam bei der Therapie waren nicht die laut Verordnung dringendsten Fälle, sondern die Angehörigen der politischen Elite (SPIEGEL, 12/2021).
Privilegien sind Sonderrechte. Sonderrechte können privater Natur sein. Dann sind sie Sache der Rechtsgeber. Verschafft beispielsweise ein Herr seinem Diener eine unkündbare Stellung, dann ist das eine Frage seiner Privatdisposition und seines Privatbudgets. Sonderrechte können aber auch per Gesetz gewährt sein und vom Staatssäckel getragen werden. Dann sind sie allemal ein Skandal, weil wegen des Einheitskassensystems beim Staat (a. a. O.) alle Bürger – auch die Ärmsten der Armen (über die Mehrwertsteuer) – ungewollt dafür geradestehen. Die Rede von „Rechtsstaat“ ist solange eine Irreführung des Publikums, als es dort öffentlich-rechtlich festgeschriebene Privilegien gibt.
Wer oft beruflich mit Behörden und „öffentlichen Betrieben“ zu tun hat, weiß, dass die dem Staat angelastete Milliardenverschwendung (s. SPIEGEL, 38/1994 ff und die zahlreichen Veröffentlichungen des Bundes der Steuerzahler) zu einem großen Teil auf das Konto des Unkündbarkeitsprivilegs der Beamten geht. Die Fehlleistungen des Staatspersonals sind beachtlich und bleiben für die Verursacher meist folgenlos. Sprechende Beispiele hierfür sind die „Steuergräber“ Flughafen Berlin, Hamburger Staatsoper, Stuttgarter Hauptbahnhof und das Segelschulschiff Gorch Fock (siehe der Verfasser, 2021 b). Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. – Das Unkündbarkeitsprivileg ist das fatalste aller Privilegien, weil in dessen Folge Milliarden an Volksvermögen mir nichts dir nichts im Irgendwo verschwinden.
Es mag in verschiedenerlei Hinsicht interessant sein, dass sich neuerdings auch die deutschen Parlamentarier in die Klasse des „hoheitlichen Gewerbes“ (s. o.) einzureihen versuchen. Parlamentarier zählen zwar nicht schlichtweg zum Staatspersonal. Dies aber nicht deshalb, weil sie dessen Privilegien nicht genießen dürften, denn das dürfen sie, sondern deshalb, weil sie darüber hinaus noch Extraprivilegien haben, einige sogar mit Verfassungsrang: z. B. den Postbus, die Eisenbahn oder das Flugzeug zu benutzen, ohne zu bezahlen (Art. 48/3 GG; s auch die Art. 46 und 47 GG), all dies natürlich in der ersten Transportklasse. – Hier erübrigt sich jeder Kommentar.
Zum Artikel 3 GG ist noch zu ergänzen: Die Aussagen in den Absätzen 2 und 3 folgen direkt aus Absatz 1. Nirgends ist ein Grund dafür angegeben, warum in diesen Absätzen noch einmal Gleiches – mit anderen Worten – ausgesagt werden muss. Außerdem: Satz 2 von Artikel 3/2 ist kein Grundrecht, sondern eine Anweisung an den Staat, etwas Bestimmtes zu tun.
Der Artikel 4 GG enthält lediglich Folgerungen aus früheren Bestimmungen. So folgt Absatz 1 aus Artikel 2/1, Absatz 2 aus Artikel 1/3 und Absatz 3 aus den Artikeln 2/1 und 2/2. Gleiches gilt für den Artikel 5: dessen Absätze 1 und 3 folgen aus Artikel 2.
Artikel 6/1 schreibt ein Privileg fest, sofern er nicht fordert, was in Artikel 2 schon steht. Das Wort „besonderen“ deutet aber eher auf ein Privileg. – Zu Artikel 6/2 wäre zu fragen: was für ein formidables Lebewesen ist „die staatliche Gemeinschaft“, dass sie über Erziehungsangelegenheiten von Heranwachsenden wachen darf? Dem Gemeinschaftsbegriff wird hier offenbar eine Art Entität untergeschoben (hierzu Anhang 4 der „Protokolle“ des Verfassers, Berlin 2021).
Artikel 6/4 benachteiligt Väter. Artikel 6/5 ergibt sich aus den Artikeln 2 und 3. Es bleibt daher unverständlich, warum hier noch einmal ein gesondertes Grundrecht formuliert werden muss.
Der Artikel 7 verstößt in Teilen komplett gegen das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung gemäß Artikel 2/1 GG, schon deshalb, weil er wie selbstverständlich von der Existenz der Schulen als von allgemein zu nutzenden Bildungsstätten ausgeht und damit andere Bildungswege diskriminiert. Die „Aufsicht des Staates“ über die Bildungsstätten wird denn auch in Folgegesetzen so interpretiert, dass die Obrigkeit Schulzwang ausüben darf.

Zitierte Literatur:
Eckardt, Dietrich, Eine missratene Beziehung – Das Ich im Staate, Kreuzlingen 2007
Eckardt, Dietrich, Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum gegenwärtigen Bildungsbetrieb, Berlin 2021
Eckardt, Dietrich, Der Markt und seine Verzerrung, Berlin 2021 a
Eckardt, Dietrich, Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft, Berlin 2021 b
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Lippmann, Walter, Die Gesellschaft freier Menschen (The Good Society, 1936), Bern 1945
Lohmar, Ulrich, Staatsbürokratie – Das hoheitliche Gewerbe,
SPIEGEL, Nachrichtenmagazin, Hamburg, Jahrgänge 1949 ff

(dieser Beitrag erfährt eine Fortsetzung)