Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de)
In meinem früheren Beitrag „Menschenrecht und ‚Grundgesetz‘ -Teil 1“ hatte ich mich auf die ersten 7 Artikel der deutschen Verfassung konzentriert und hier vor allem auf das Prinzip der Rechtsgleichheit. Die Aussagen in den folgenden Artikeln 8, 9, 10, 11 und 12 GG lassen sich teilweise mittelbar aus dem Artikel 2/1 ableiten, auf jeden Fall aber aus dem von mir am angegebenen Ort formulierten Menschenrechtsaxiom. Bei diesen Artikeln ist außerdem zu erkennen: die Anfangsartikel des GG enthalten nicht nur „Grundrechte“, sondern auch Verbote. Mit Artikel 8/2 beispielsweise kann das Recht aus Artikel 8/1 verboten werden. Gleiches gilt für das Recht in Artikel 9/1, das in Artikel 9/2 durch ein Verbot wieder vernichtet wird. Artikel 9/3 räumt einer Partei der Arbeitsvertragspartner ein Privileg ein und diskriminiert damit die andere Partei. Außerdem erlaubt er Vertragsbruch.
Das Grundrecht aus Artikel 10/1 ist eingeschränkt durch Artikel 10/2, der es gestattet, dieses Recht zu annullieren. Ähnlich widersprüchlich verhält sich die Aussage über das Recht der Freizügigkeit in Artikel 11/1 in Gegenüberstellung zur Aussage in Absatz 11/2. Artikel 12/1 folgt direkt aus Artikel 2/1. Er widerspricht diesem aber in den Absätzen 2 und 3. Denn er enthält mit der Einschränkung, die in Absatz 2 formuliert ist, eine Kontradiktion. Berufsfreiheit und Berufszwang schließen einander aus. Eine Gesellschaft kann nicht beides zugleich haben. Der Widerspruch wird noch offensichtlicher, wenn man den Artikel 12a GG hinzu-nimmt, der später eingefügt wurde. Dort wird – zumindest für einen be-stimmten Lebensabschnitt – der Beruf des Soldaten für Männer zwingend vorgeschrieben. Der Artikel 12 hätte höchstens eine Berufsarmee zugelassen.
Mit der Schaffung des Artikels 12a nahm man (mangels besseren Wissens?) Zuflucht zu einer uralten Volk-unter-Waffen-Ideologie, die durch das Frankreich der Nachrevolutionszeit wiederbelebt worden war. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man dessen Hereinnahme in das GG mit der Erwartungshaltung bzw. dem Zwang der Alliierten zu rechtfertigen sucht. – Denn man hätte ihn ja anlässlich der zweimaligen zeit- und kostenintensiven Überarbeitung der Verfassung (durch hochkarätig besetzte Verfassungskommissionen!) wieder herausnehmen können.
Der Artikel 12a GG steht außerdem im Widerspruch zum Artikel 3 GG (Gleichheitsgrundsatz), weil er einen Teil der Bevölkerung indirekt begünstigt. Im Artikel 3/2 GG heißt es nämlich: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Ähnlich grob widerspricht der Artikel 12a dem Artikel 33/1 GG, der besagt, dass „jeder Deutsche“ die „gleiche(n) staatsbürgerliche(n) Rechte und Pflichten“ habe.
Wie eklatant hier die Widersprüche sind, hätten die Gesetzgeber spätestens bei Einführung des sogenannten „Zivildienstes“ bemerken müssen. Jetzt kann nämlich folgende Situation eintreten: Ein junges Paar, gleicher Schuljahrgang und gleicher Zeitpunkt der Gesellenprüfung, hat vor, im gleichen Beruf (Friseur) tätig zu sein. Sie wollen sich dort selbständig machen. Während nun sie ihre Karriere (Meisterprüfung, Geld ansparen für Existenzgründung usw.) voll in Angriff nehmen kann und ihr Ziel u. U. in einem Zug erreicht, wird er für eine gewisse Zeitspanne per „Zivildienst“ zu einem ihm fremden und von ihm nicht gewünschten Beruf, zum Beispiel Altenpfleger, zwangsverpflichtet. Erst danach darf er wieder an seine angestrebte Berufslaufbahn denken. – Vor dem Hintergrund solcher Widersprüchlichkeit muss man sich das in Deutschland neu eingeführte sogenannte Antidiskriminierungsgesetz auf der Zunge zergehen lassen.
Nun scheint es so, als hätte man das Dilemma inzwischen erkannt, in das sich das GG mit seinen Artikeln 12 und 12a verwickelt. Momentan ist im Gespräch, den von den Nazis erfundenen Arbeitsdienst wieder einzuführen. Hier sollen dann alle – Männlein wie Weiblein – an die Kandare genommen werden. In der Diskussion über dieses Projekt habe ich bisher noch keine Stimme vernommen, die sich über das eigentliche Debakel beim Artikel 12a, nämlich den Gegensatz zu Artikel 12, ereifert hätte.
Ich erspare mir hier die Aufdeckung weiterer Widersprüche und Ungereimtheiten in den Artikeln 13, 14, 15, 16a und 17a. Über die Artikel 14, 15 und 18 habe ich mich in meinem Werk über das Recht (2021 a) schon geäußert. Weitaus folgenreicher ist jene Kontradiktion, die aus der gleichzeitigen Geltung der Artikel 2/1 GG und 123/1 GG erwächst. Der Artikel 2/1 schreibt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit fest. Der Artikel 123/1 setzt das vor Kriegsende schon gültige sog. „öffentliche Recht“, aber auch das von den Nazis vielfach gemodelte Privatrecht, insbesondere das „Bürgerliche Gesetzbuch“ (BGB) und seine Neben- und Ergänzungsbücher wieder in Geltung. Wodurch entsteht hier ein Widerspruch?
Wegen Artikel 2/1 GG muss die Handlungsfreiheit unbedingt gelten. Das heißt unter anderem auch: Vereinbarungen und Verträge frei ab-schließen dürfen. Die Handlungsfreiheit muss gelten, wenn sie weder „die Rechte anderer“, noch die „verfassungsmäßige Ordnung“, noch „das Sittengesetz“ verletzt. Nun sollen aber laut Art. 123/1 GG auch die „öffentlichen“ und alle tradierten Zivilgesetze gelten.
Selbst wenn man die durch Art. 2/1 GG gegebenen soeben erwähnten Schranken berücksichtigt, müssten reihenweise Gesetze fallen, weil sie die in Art. 123/1 GG aufgestellten Bedingung nicht erfüllen, dem GG nicht zu widersprechen. Denn durchweg alle „öffentlichen“ und viele Zivilgesetze geben keine abdingbaren Normen für das Handeln vor, sondern solche, die – etwa durch Geldstrafe oder Beugehaft – erzwungen werden können. Der Bürger muss sich bei seinen Vertragsabschlüssen an die obrigkeitlichen Vorgaben halten. Sonst handelt er sich – auch ohne im eigentlichen Sinne kriminell zu sein – empfindliche Strafen ein. Bei vielen zivilen Rechtsvorgaben handelt es sich nämlich nicht um frei vom Bürger zu übernehmende Gestaltungsmuster, sondern um Zwangsregulative (s. der Verfasser, 2021 a), bei den sogenannten „öffentlichen“ Rechten, von denen die Rechtsphilosophie sagt, dass sie reines Befehlsrecht seien, sowieso.
Erzwingbare Normvorgaben beim Privatrecht stehen der im GG proklamierten persönlichen Freiheit unversöhnlich entgegen. Die zivilen Gesetzesvorgaben sind in den meisten Fällen keine freien Gestaltungsangebote für Vereinbarungen und Verträge, sondern oktroyierte Gebote (a. a. O.), vom sogenannten „öffentlichen Recht“, ganz zu schweigen. Die Ge-setze stehen dem Naturrecht des Menschen, wonach Vereinbarungs- und Vertragsfreiheit unbedingt und uneingeschränkt gelten muss, diametral entgegen. Viele Juristen bemerken die Menschenrechtsfeindlichkeit und den Widerspruch zum Artikel 2 GG in den Gesetzen nicht einmal und sind ganz erstaunt, wenn man sie darauf aufmerksam macht.
Grundsätzlich stehen vorgegebene Regulative für das Privatrecht, die nicht abdingbar sind, immer im Widerspruch zu einem Grundsatz, der die Freiheit der Lebensentfaltung festschreibt, also zum Menschenrechtsgrundsatz und zum Artikel 2 GG. Sie laufen letztlich auf Nötigung hin-aus.
Allgemein lässt sich sagen: Das Menschenrecht ist in den soeben diskutierten Artikeln dem Sinne nach durchaus berücksichtigt. Aber genau wie die Völkerrechtler (die Schöpfer der Menschenrechtscharta und der EU-Konvention) haben sich auch die GG-Schöpfer intellektuell offensichtlich nicht sonderlich verausgabt. Sie machen abgeleitete Sätze zu sog. „Grundrechten“. Der Menschenrechtsgrundsatz wird durch in ihm enthaltene Derivate ersetzt.
Nun lauern bei der Verwendung bloßer Derivationen stets Gefahren: Ungereimtheiten und Widersprüche schleichen sich ein. Ich habe einige davon oben und in meinem früheren Beitrag zu diesem Thema aufgeführt. Außerdem: Das Aufzählen bloß abgeleiteter Rechtssätze, also Aussagen, die selbst der Schwachsinn aus dem Menschenrechtsaxiom zu erschließen vermag, hat durchaus etwas Klippschulenhaftes. Auf derlei Verkündigung kann die Menschheit verzichten.
Was könnte ein gesellschaftliches Organisationsschema für eine über-sichtliche Sache sein, wenn in ihr so viel Text eingespart werden könnte wie bei den „Grundrechten“ des GG! Übrigens nutzen wir im Alltag wesentlich mehr und auch ganz andersartige Menschenrechtsderivate als diejenigen, die in der Menschenrechts-Charta oder im GG stehen. Wir nehmen uns diese Rechte einfach, ohne uns je die Erlaubnis aus der Charta oder dem GG zu holen. Dazu sind wir durchaus berechtigt, weil wir uns auf das Menschenrechtsaxiom berufen können. Und keiner sollte uns daran hindern! Für die nicht in der Charta oder im GG explizierten Rechte können wir jedoch nicht die gleiche offizielle Legitimität beanspruchen, wie für die dort aufgelisteten. Und das wirkt sich in vielen Fällen als Einschränkung individueller Lebensentfaltung aus.
Die Auswahl von Rechten im GG ist offensichtlich historisch bedingt. Weil die „Grundrechte“ nicht konsequent auf die drei Menschenrechtsprinzipien Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit ausgerichtet und daraufhin klar ausformuliert wurden, konnte der Menschenrechtsteil des GG kaum richtig verstanden werden. Das war bisher übrigens auch bei der UN-Menschenrechts-Charta nicht der Fall. Beide mussten daher über kurz oder lang zu schwachbrüstigen Heilsbotschaften verkommen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in diese Manifeste sogenannte „soziale“ Rechte eingeschlichen haben, also unverhohlene physische Ansprüche, die zum eigentlichen Menschenrecht unweigerlich in einen Wider-streit geraten müssen. Darauf hat vor allem der italienische Menschenrechtler Norberto Bobbio (2007) hingewiesen.
Ein kritischer Beobachter der Menschenrechtsszenerie ist nicht überrascht, wenn er liest, wie die reichgesponserten Kader der Menschenrechtsorganisationen die Menschenrechte in ihren eigenen Reihen mit Füßen treten (s. Tagesspiegel-Bericht vom 8.3.2019: „Unmenschliche Menschenrechtler“).
Die Kritik, die ich hier an den ersten Artikeln des „Grundgesetzes ü-be, lässt sich fortsetzen bei weiterer Lektüre der Verfassung. Einen Teil davon finden die Leser in den im Literaturverzeichnis aufgeführten Werken von mir. Nicht nur die offensichtlichen Widersprüche der Artikel des GG gegeneinander, sondern auch die mangelnde begriffliche Klarheit in den einzelnen Artikeln wirken sich folgenschwer auf das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern aus – und auch auf den alltäglichen Um-gang der Bürger miteinander. Herrscht keine Klarheit beim Rechtsfundament, entstehen Reibeflächen auch dort, wo sie eigentlich nicht notwendig wären. Hier kann sich ein reichhaltiges Potential für irrationale und sinnlose Streitereien entfalten, was den Advokaten reichlich Geschäft be-schert.
Je gedankenloser die Grundlegung des gesellschaftlichen Status durch eine Staatsverfassung, desto irrwitziger sind die Folgen. Die Irrationalität und Sinnlosigkeit des Streitens von Konfliktparteien wird verstärkt, wenn die Rechtsgeber die Grundlagen der Konfliktlösungen verpatzen. Dies geschah und geschieht infolge des GG in einem Umfang, dass oft selbst die „Experten“ nichts mehr verstehen. Hundertschaften von Anwälten und Konsultanten mischen im Interesse ihrer Mandantschaft das basisrechtlich bedingte Rechtschaos noch zusätzlich an. – Es spricht nicht für eine Verfassung, wenn auf der durch sie geschaffenen Rechtsbasis eine Gesellschaft zu einem Advokatenregime verkommt.
Die eingangs zitierte Fassung des Menschenrechtgrundsatzes erlaubt, bei den „Grundrechten“ die Spreu vom Weizen zu trennen. Will sagen: Alle Bestimmungen des GG, die nicht genuin menschenrechtsverwurzelt sind, müssen ihren Rang als „Grundrecht“ verlieren. Und außerdem: Je-ne Bestimmungen, die von den Verfassungsschöpfern eindeutig nicht in der Natur des Menschen gefunden, sondern – z. B. in Form von Geboten und Verboten – von den Menschen erfunden, also künstlich gesetzt wurden, wären aus den „Grundrechten“ zu verbannen und dem Statuarischen Recht zuzuschlagen.
Die „Grundrechte“ in den Artikeln des GG waren hier vor dem Hintergrund des Menschenrechtsaxioms zu analysieren. Die dabei zutage tretenden Ungereimtheiten sind zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass das GG nicht klar zwischen Menschenrecht („Banner der Freiheit“; s. der Verfasser, 2021, Anhang 3) und Statuarischem Recht („Garant des Friedens“; s. der Verfasser, 2021 a) unterscheidet. Dadurch wurde die genaue Abgrenzung dessen, was zum reinen Naturrecht des Menschen („Menschenrecht“) gehört, von dem, was zum Statuarischen Recht gehört, vereitelt. Das musste zu vielen widersprüchlichen Aussagen führen (s. o.). So konnte insbesondere nicht gesehen werden, welch wichtige gesellschaftliche Funktion dem Statuarischen Recht angesichts der „Januskopfigkeit“ des Menschenrechts zukommt (a. a. O.).
Fazit: Das Menschenrecht kann nicht nur missverstanden, sondern auch verholzt werden. Das geschieht durch Versäumnisse bei der Systematik und Logik seiner Darstellung und durch mangelnde Kenntnis einschlägiger Begründungszusammenhänge. Selbst wenn man sich mit der Auffassung des renommierten Rechtsgelehrten Josef Esser, jede pro-grammatische Aufzählung derivativer Grund- und Menschenrechte sei eine „Sache für Demagogen“, nicht identifiziert, stimmt doch bedenklich, mit welchem Fleiß Grund- und Menschenrechtsschöpfer sich an diese Tätigkeit heranmachen. Eine Staatsverfassung, die über Druckseiten hinweg bloße Derivate auflistet, outet sich nicht gerade als das intelligenteste Machwerk menschlicher Kreativität. Sie zeugt eher davon, wie man Menschenrecht auch verdunkeln, ja geradezu verhunzen kann. Schon anhand der Menschenrechts-Charta lässt sich zeigen, dass die dort verzeichneten sogenannten „Menschenrechte“ oft mit sich selbst im Widerspruch stehen.
Zitierte Literatur:
Bobbio, Norberto, Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 2007
Charta der Menschenrechte
Eckardt, Dietrich, Persönlichkeitsbildung in Freiheit – Eine Alternative zum heutigen Bildungsbetrieb, Berlin 2021
Eckardt, Dietrich, Das Recht und seine Verfälschung, Berlin 2021 a
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Lippmann, Walter, Die Gesellschaft freier Menschen (The Good Society, 1936), Bern 1945