Dietrich Eckardt (diteck@t-online.de; www.dietrich-eckardt.com)
In Ökonomik, Soziologie, Jurisprudenz und Politik ist es üblich geworden, „öffentliche Güter“ und „private Güter“ zu unterscheiden. Mit der Bezeichnung „öffentlich“ in Bezug auf Güter meint man offensichtlich die kollektiven Güter. -Nun stehen die kollektiven Güter – wie übrigens alle anderen auch – für die Individuen immer nur zur privaten Nutzung bereit. Der einzige Unterschied zu anderen Gütern ist: kollektive Güter werden gewöhnlich von allen privat genutzt. Es bleibt deshalb unklar, warum kollektive Güter „öffentlich“ heißen. Mir ist nicht bekannt, ob es jemandem bisher gelungen ist, zwischen „öffentlich“ und „privat“ in Bezug auf Güternutzung eine saubere und sachgerechte Begriffstrennung vorzunehmen. Es scheint, mit der Unterscheidung „privat“ und „öffentlich“ im ökonomischen Nutzungsbereich will man die Aufmerksamkeit ablenken von einigen heiklen Problemen, die bei der Lieferung kollektiver Güter offenbar verdeckt werden sollen. Wir wollen der Sache nachgehen.
Die derzeit existierenden Wirtschaftsgemeinschaften sind so organisiert, dass ein Großteil der kollektiven Güter, das heißt der Güter, die die Gesamtheit der Subjekte eines Wirtschaftsraums nutzt (Versorgungsnetze, Rechtsschutzeinrichtungen, Landesverteidigung usw.) von einem einzigen Betrieb erbracht wird. Wir nennen ihn Staat. Ob die Bezeichnung glücklich gewählt ist oder nicht, dieses Unternehmen heißt jedenfalls so. Manche Philosophen, z. B. Friedrich Hegel, setzen den Begriff „Staat“ mit „Gesellschaft“ gleich. Das tun offenbar auch schon die Übersetzer der Politeia, des gesellschaftstheoretischen Hauptwerks des griechischen Philosophen Plato.
Der Staat ist – von ökonomischer Warte aus gesehen – zweifellos eine Leistung erbringendes Unternehmen, gewissermaßen eine Firma. Er selbst stellt sich selbst mehr und mehr als eine solche dar. Einer der typisch-staatlichen Leistungsbereiche, das Militär, präsentierte sich in Deutschland vor einigen Jahren und präsentiert sich auch neuestens wieder in Werbespots als regelrechter Firmenbetrieb mit „hohem Betriebskapital“ und „Topleuten im Management“. Moderne Staaten betonen gern ihren Dienstleistungscharakter und gerieren sich als vorbildliche Leistungserbringer. Die Nähe zur übrigen Wirtschaft scheint damit demonstrativ betont werden zu sollen.
Man kann den Presseleuten ja Vieles vorwerfen, bei manchen Wortfindungen beweisen sie Instinkt: Der von ihnen schon vor Jahren geprägte Ausdruck „Baden-Württemberg-GmbH“ (damals mit Lothar Späth an der Spitze) bezeichnet treffend die Organisationsstruktur eines vom Zeitgeist als mustergültig eingestuften Staatsgebildes. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnete sich einmal als den „Vorstandsvorsitzenden der Deutschland AG“. Die Wochenschrift FOCUS spricht mit Blick auf den deutschen Staatsbetrieb von einer Deutschland AG (20/2020). Diese Art Imagepflege der Staatslenker und ihrer Kombattanten, vor allem auf kommunaler Ebene, sich nämlich als nützliche und kundenorientierte Dienstleister zu geben und ihre Legitimation daraus zu schöpfen, erleichtert den neuerdings immer mehr erwachenden, nüchternen und entmystifizierenden Blick auf den Staat.
Der Staat als wirtschaftliches Gebilde ist Fakt. Er ist genau wie alle anderen Wirtschaftssubjekte Leistungsproduzent und Leistungsempfänger. Er bringt in seiner Eigenschaft als Großbetrieb Güter in die Gesellschaft ein wie jedes andere Unternehmen auch. Und er verlangt Gegenleistungen wie alle anderen – in der Regel als Geldzahlung. Er ist also ganz gewöhnlicher Tauschpartner und somit ein ökonomischer Faktor innerhalb der Gesellschaft. Der Staat in seiner Rolle als Betrieb, als Einrichtung mit eigenem Funktionsfeld und eigenem Kassenwesen unterscheidet sich also in ökonomischer Hinsicht von anderen Güteranbietern nicht. Besonders die Kollektivbedürfnisse sind es, die er mit seinen „öffentlichen“ Gütern zu befriedigen sucht.
Der Umgang des Bürgers mit dem Staat ist ein Handel, nämlich der Tausch Dienstleistung gegen Geld. In ihrer Rolle als ökonomische Gebilde stehen die Staaten jedoch mit keinem anderen Wirtschaftsbetrieb im Wettbewerb. Sie sind nationale Monopolisten, und das in vielerlei Hinsicht. Sie mögen vieles andere auch sein, als Wirtschaftsbetriebe sind sie Monopolisten. Bestimmte Leistungsbereiche innerhalb der Gesellschaft, bei denen es als sinnvoll und notwendig erschien, sie zu monopolisieren, übernahm im Laufe der Zeit Zug um Zug der Staat. Es wuchsen ihm mannigfache Aufgaben zu. Heute bewirtschaften die Funktionsträger des Staates die größten und vielgestaltigsten Monopole der Gesellschaft. Der Staat ist insofern nicht nur irgendein Monopolist, sondern jener, welcher alle anderen überragt. Aber nicht nur das! Innerhalb seines Territoriums ist er auch gefährlichste unter Allen. Er „ist nicht zuletzt deshalb am meisten zu fürchten, weil dieser Fall des mächtigsten Monopols zugleich derjenige ist, der am meisten mit Phrasen verhüllt werden kann“ (Wilhelm Röpke, 1958).
Nun ist ein Staat nicht Monopolist schlechthin. Bei ihm erscheinen die unterschiedlichsten Monopole zu einem riesigen Betriebskomplex zusammengefügt. Der Staat ist ein Monopolkonzern mit Einheitskasse. Aber mehr noch! Staaten sind gewöhnlich nicht nur schlicht Konzerne, sondern sogar Konzerne von Konzernen. Sie sind gigantische Wirtschaftsgebilde – Megamonopole sozusagen.
Ein besonders sensibler Aktionsbereich dieser Monopole sind die Betriebe, die den Rechtsschutz anbieten und Rechtssicherheit leisten: Gesetzgeber, Gerichte, Vollzugsorgane usw.. Diese Einrichtungen sind zwar auch ökonomischer Natur. Aber sie befriedigen in erster Linie nicht ökonomische Bedürfnisse der Staatsbürger, sondern juridische. Hier wird Recht geschaffen, interpretiert und durchgesetzt.
Der Konzern „Staat“ hat – wie andere Konzerne auch – eine Geschäftsordnung. In dieser sind Ziele, Aufgaben, Organisationsstruktur und deren Entstehungsregel (die sogenannte „Wahlordnung“) des Staates festgelegt. Die Geschäftsordnung heißt Verfassung (Staatsverfassung). Dem eigentlichen Verfassungstext ist oft ein Bekenntnis vorangestellt – das Bekenntnis zum Menschenrecht. Der eigentliche Inhalt der Verfassung sind aber die Geschäftsbedingungen, die das Handeln des Staates und den Umgang mit ihm bestimmen.
Nun sollte man meinen, die Verfassung sei so gestaltet, wie wir das aus den übrigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kennen, zum Beispiel als Vereinssatzungen, Firmenstatuten, Orchesterordnungen, Festtagsritualen usw. Hier überall hat eine Geschäftsordnung einen ganz nüchternen, rein auf die jeweils intendierte Sache bezogenen Charakter. Was sehen wir hingegen bei zweien der deutschsprachigen Verfassungen? – Deren Schöpfer berufen sich auf Gott. Die Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft beginnt mit den Worten „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott…“. Offensichtlich beabsichtigen die Verfassungsschöpfer damit eine Heiligsprechung ihrer Texte.
Die Berufung auf Gott ist eine Verfahrensweise, die wir in anderen Verfassungen nicht finden, vor allem nicht in den klassischen (der amerikanischen und der französischen). Sie kann sich also auf die aufklärerische Verfassungstradition nicht berufen. Weder in der Virginia bill of rights von 1776, noch in der Constitution oft he United States von 1787 finden sich Formulierungen dieser Art. Auch die österreichische Verfassung kennt sie nicht.
In den früheren französischen Verfassungen von 1791 und 1793 wurden zwar die Menschenrechte zu Heiligtümern erklärt. Aber dem kann man noch einen gewissen Sinn abgewinnen. Denn die Menschenrechte sind in der Tat etwas, was man nicht einfach hat, weil es von Natur aus da ist, sondern etwas, zu dem man sich bekennen muss. Zu was man sich bekennt, kann man durchaus zu einem eigenen Heiligtum erklären. (Von 1958 an findet sich übrigens die Heiligsprechung der Menschenrechte in der französischen Verfassung nicht mehr).
Für die Geschäftsordnung des deutschen Staates („Grundgesetz“) veranstaltet man alle paar Jahre pompöse Feierlichkeiten. Bei solchen Gelegenheiten wird dieses Werk emphatisch glorifiziert und nobilisiert. Schon in der Schule werden die Deutschen darauf getrimmt, die Geschäftsordnung ihres Staatsbetriebs für eine Devotionale zu halten. Dazu passt, dass staatliche Funktionsträger bei ihrer Vereidigung den lieben Gott als Hilfsinstanz für ihre Tätigkeit anrufen sollen – zuweilen sogar mit der Hand auf der Bibel. – Jede seriöse Firma verlangt Qualifikation und ordentliche Arbeit von ihren Leuten. Die Firma „Staat“ verlangt den heiligen Schwur.
Außerdem: Die obrigkeitlichen Machthaber streichen den besonderen Charakter ihrer Dienste gern dadurch heraus, dass dies sogenannte „hoheitliche Akte“ seien. So etwas wie Hoheitlichkeit käme ihnen im Unterschied zu den anderen angeblich notwendig zu. Soweit ich sehe fand sich bisher noch niemand, der in nachroyalistischen Gesellschaften den Sinn der Hoheitlichkeit bei Staatsaufgaben nachvollziehbar begründen konnte. So sind wir auf Beobachtungen und Vermutungen angewiesen.
Mit der Hoheitlichkeit will man – so sieht es aus – dem Staatsbetrieb vor allen anderen gesellschaftlichen Gebilden einen wirtschaftlichen und rechtlichen Sonderstatus einräumen. Dem staatlichen Güter- und Leistungsangebot soll dadurch wohl eine Art Unantastbarkeitsnymbus verliehen werden. Damit beabsichtigen die politischen Eliten offenbar, sich und ihr Personal allen anderen gegenüber besser zu stellen und ihre Privilegien damit zu begründen. Die Mystifizierung staatlicher Funktionen mit dem Label „Hoheitlichkeit“ muss jedoch als Versuch gewertet werden, sich eine herausragende Rechts- und Machtposition innerhalb der Gesellschaft zu verschaffen.
Moderne Staaten betonen gern ihre Hilfsfunktion für die Bevölkerung und gerieren sich diesbezüglich als vorbildliche Einrichtungen. Die Nähe zur übrigen Wirtschaft scheint damit demonstrativ betont werden zu sollen (s. o.). Mit solchen Demonstrationen demontieren sie jedoch selber die Ideologie der Hoheitlichkeit und leiten eine Bewusstseinsentwicklung ein, an deren Ende diese Ideologie sterben muss. Dennoch ist sie nach wie vor en vogue und das größte Hemmnis bei der nüchternen Einschätzung des Staates als Dienstleistungsanbieter. Selbst die ehemaligen Turnschuhträger auf dem politischen Parkett glauben feste daran, dass es beim Staat so etwas wie hoheitliche Bereiche geben müsse. Sie bemerken daher nicht, dass sie sich mit sich selbst im Widerstreit befinden, – sofern sie nämlich gleichzeitig dessen Dienstleistungscharakter vehement herausstreichen.
Die Verheiligung des Staatapparats, seiner Funktionen und seines Personals steht einem entwickelten gesellschaftstheoretischen Denken diametral entgegen. Selbst von einigen Staatsfunktionären wird sie nicht mehr ernst genommen. Die Berechtigung der Ansicht, dass staatliche Einrichtungen schlicht Leistungs- und Gütererbringer für eine Bevölkerung sein sollen, bestreiten inzwischen auch hartgesottene Ideologen der Hoheitlichkeit nicht mehr. Aber wie rechtfertigen sie dann den Anspruch auf das grundsätzlich Besondere und Ausgezeichnete ihrer Aktivitäten?
Literatur:
Eckardt, Dietrich, Die Wirtschaft und ihre Verzerrung, Berlin 2021
Eckardt, Dietrich, Die Bürgergesellschaft – Ein Gegenwurf zur Staatsgesellschaft, Berlin 2021a
FOKUS, Nachrichtenmagazin, München 1993 ff
Röpke, Wilhelm, Die Lehre von der Wirtschaft, Zürich 1958
Staatsverfassungen USA, Frankreich, Schweiz, Österreich, Deutschland